Wien – Eine Verwechslungskomödie im Iran: Der Arbeitslose Ali Sabzian wird im Bus von einer Frau angesprochen. Sie hält ihn für Mohsen Makhmalbaf, den großen Filmemacher. Ali ergreift die Gelegenheit, er geht mit in das Haus der wohlhabenden Leute, lernt die Familie kennen und tut so, als würde er Dreharbeiten vorbereiten. Der Schwindel fliegt auf, es kommt zu einem Prozess, am Ende trifft Ali Sabzian den echten Mohsen Makhmalbaf, um sich zu entschuldigen.
Abbas Kiarostamis Film Namaye nazdik (Nahaufnahme) aus dem Jahr 1990 endet "im richtigen Leben", in einem Moment, in dem die Unterscheidungen wiederhergestellt sind, die für eine Weile aufgehoben waren. Er endet aber auch "im Kino", das im Iran gerade deswegen einen so wichtigen Stellenwert hat, weil die Gesellschaft nicht frei ist. Das Kino ist eine Alternative, ein anderer Ort, eine Verbindung zur Welt (auch ökonomisch), es ist das Gegenteil von Überwachung.
Namaye nazdik ist einer von 100 "Vorschlägen", die das Österreichische Filmmuseum im September zu dem Begriff Die Utopie Film macht. Natürlich geht es um einen Kanon, aber mehr noch geht es darum, eine Basis zu errichten, auf der die bürgerliche Erbaulichkeit einer Liste der "besten Filme" ruhen kann.
Diese Basis ist historisch (das "extreme" 20. Jahrhundert), geografisch (in einer Globalisierung avant la lettre) und kinematografisch (durch Formen und Techniken) bestimmt. Raoul Walshs Pionierwestern The Big Trail, der in der restaurierten Breitwandfassung des Museum of Modern Art New York angekündigt ist, blickt von 1930 – als gerade der Tonfilm erfunden war – auf 1880, als die Siedler die letzten unberührten Orte in Nordamerika erreichten.
Walsh verwendete dazu ein damals neues Breitwandformat und brach aus den Beschränkungen des Studios aus in die freie Natur. The Big Trail ist inzwischen mehrfach Geschichte geworden, denn das technische Format ist überholt, und die Erfahrung der Landnahme ist nicht mehr das prägende Paradigma für Amerikas Selbstverständnis.
Ort der Verknüpfung
Walshs Film ist bei jenem Begriff der Utopie angelangt, den das Österreichische Filmmuseum vorschlägt: kein Ideal außerhalb der Geschichte, sondern ein Ort der Verknüpfung, eines Zusammenhangs von Raum, Zeit, Technik, Vision. Die "100 Vorschläge" weichen deswegen häufig ab von den geläufigen Verdichtungen. So läuft von Fassbinder nicht Die Ehe der Maria Braun, sondern Angst vor der Angst mit Margit Carstensen als Hysterikerin – es ist vielleicht der unbekannteste von seinen Frauenfilmen. Von John Ford läuft nicht The Searchers oder Der Mann, der Liberty Valance erschoss, sondern Young Mr. Lincoln (1939), der weidlich umstrittene Versuch einer Grundlegung amerikanischer Exekutive.
Die Wiederkehr des Verdrängten findet bei Fassbinder in einem Kammerspiel, im Gesamtprogramm aber auch zwischen individuellen Werken statt: The Exiles (1958/61) von Kent MacKenzie, ein Film rerouvé, zeigt Nachfahren amerikanischer Ureinwohner in Bunker Hill, einem Viertel von L.A., das wie ein Rückzugsgebiet wirkt, das nicht mehr lange zu halten sein wird.
Die Beziehung der "100 Vorschläge" zueinander ist also nicht nur eine der Ergänzung, der Bereicherung, sondern auch eine der impliziten Kritik: Touki Bouki (1973) von Djibril Diop Mambéty handelt aus der Perspektive des Senegal von Paris und entwirft mit seinen Farben, seinen Brüchen, seinen kühnen Protagonisten eine afrikanische "Neue Welle", die das französische Subventionskino danach gründlich entschärft hat.
Blick auf Details
Polen, Brasilien, Jugoslawien, Argentinien, Dänemark, Iran, Schweiz – das sind Stationen der Utopie Film, die im Einflussbereich, aber nicht unter der Hegemonie der Großmächte Japan, Russland, Frankreich, Indien stehen.
Die komplizierte Nationalgeschichte Chinas wird von Hou Hsiao-hsiens Stadt der Traurigkeit (1989) erschlossen und betrauert zugleich, sie wird in Corey Juens Hongkong-Hit Fong sai yuk (1993) aber auch wieder zur Sache des Volkes. Das Ende der Weimarer Republik wird in Werner Hochbaums Morgen beginnt das Leben (1933) vorweggenommen, einem Film von albtraumhafter Klarheit, dessen Stelle in einem orthodoxen Kanon von Fritz Langs M felsenfest besetzt ist.
Die Utopie Film funktioniert nach einem Prinzip der Verschiebung: Der Blick auf ein Detail erhellt auch das zentrale Faktum. Deswegen ist dies nicht so sehr ein Programm ohne Ozu, ohne Bresson, ohne Tarkowski, ohne Welles, sondern eine Auswahl, in der diese und andere Klassiker latent sind und die signifikanten Entstellungen manifest werden dürfen.