Die Entscheidung soll offensichtlich am islamischen Feiertag fallen: Ein in der Imam-Ali-Moschee die Freitagspredigt haltender Ayatollah Ali Sistani - das heißt, die Rückkehr der traditionellen schiitischen Autoritäten nach Najaf und das Ende der Besetzung der Moschee durch die jungen Wilden - erschien am Donnerstag möglich.

Allerdings ist gestern, dem Tag der Rückkehr Sistanis nach Najaf, auch wieder vieles - vielleicht zu vieles - andere passiert. In Kufa wurden Dutzende Menschen getötet, der Anschlag hatte den einzigen Zweck, eine Beilegung des Konflikts in Najaf zu verhindern. Ob nun sunnitische Jihadis, sprich Al-Kaida, oder schiitische Radikale die Täter waren, macht in dieser Beziehung keinen Unterschied.

Aber die Aktion Sistanis ist jedenfalls als Geniestreich angelegt - wenn sie denn gelingt. Wobei nicht zu übersehen ist, dass die Entscheidung, die große Geste des "Marsches" nach Najaf zu setzen, auch ihm selbst helfen wird.

Von Sistani, der sich in den Monaten nach dem Fall Saddam Husseins als Führungsfigur der religiösen Schia profilierte, hatten sich zuletzt viele Anhänger abgewandt: diejenigen Schiiten, die sich in der Widerstandsrhetorik und dem Underdog-Appeal des Muktada al-Sadr wiederfanden, aber auch andere, nicht unbedingt Sadr-freundliche, die Sistani seinen täglich geübten Pragmatismus - den Amerikanern, den Radikalen, den Iranern gegenüber - als Entscheidungsschwäche auslegten.

Als sich Sistani dann just in dem Moment, in dem die Situation in Najaf eskalierte, ins Ausland begab, wurde ihm das von vielen schlicht als Feigheit ausgelegt, Herzoperation hin oder her. Erinnerung an sein Stillhalten unter Saddam Hussein wurde wach.

Es blieb Sistani also, wollte er sein Ansehen als Marja al-taqlid retten, als höchste Lehrinstanz, die er für viele religiöse Schiiten ist, gar nichts übrig, als das Heft endlich in die Hand zu nehmen.

Durch seine Aktion rettet er aber auch Muktada al-Sadr und dessen Anhänger, zumindest erst einmal physisch. Aufgehoben in der Masse der friedvollen Marschierer, die nach Najaf und in die Moschee hineinströmen - und irgendwann wieder heraus -, sind sie unangreifbar und können ungehindert abziehen. Wenn sie das denn wollen - Sadr selbst ist dazu offensichtlich bereit, aber man darf sich seine Kämpfer längst nicht mehr als homogene Masse vorstellen.

Aber wenn sie abziehen: Dass die Amerikaner - oder ihre militärisch unbedeutende, aber propagandistisch wichtige irakische Vorhut - auf diese Menschenmasse schießen werden, ist eher nicht zu erwarten. Der Irak wäre dann für die USA endgültig verloren.

Wobei ein Restrisiko bleibt: Weder die US-Armee noch die irakische Regierung haben die Situation wirklich unter Kontrolle. Es wird weitere Eskalationsversuche von Radikalen geben, und auf irakischer Regierungsseite ist der Wunsch sehr stark ausgeprägt, mit dem Sadr-Spuk ein für alle Mal aufzuräumen: Die irakische Nationalgarde schien sich am Donnerstag nur schwer damit abzufinden, dass der Showdown aufgeschoben oder ganz abgesagt ist.

Tatsächlich nimmt Sistani Interimspremier Iyad Allawi erst einmal die Gelegenheit, klare Verhältnisse zu schaffen, indem er nicht nur die Mehdi-Armee, sondern auch alle anderen, vor allem die Amerikaner, vertreibt. Für die ist das politisch nicht angenehm, aber Ähnliches sind sie im Irak schon gewohnt. Und immerhin übergeben sie ja die Stadt nicht einer Bande von Radikalen wie in Falluja, sondern Sistani, der der von ihnen installierten Regierung eine Chance gegeben hat.

Aber auch Allawi wird gewissermaßen gerettet: vor sich selbst. Er hätte eine zerstörte Imam-Ali-Moschee politisch nicht lange überlebt. Am Donnerstag blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Heimkehrer Sistani durch die Entsendung einer Ministerdelegation submissest zu begrüßen. Dass der gestärkte Sistani seine politischen Wünsche Wahlen betreffend demnächst in Bagdad deponieren wird, dessen kann man sicher sein. (DER STANDARD, Printausgabe, 27.8.2004)