STANDARD: Die Agentur Moody's hat bereits im Oktober 2003 Russlands Rating auf Investitionsniveau erhöht und dies auch kürzlich bestätigt. Warum Sie nicht?

Novikov: Während Moody's das Recovery nach einem Finanzkrach fokussiert, bewertet S&P die Wahrscheinlichkeit eines Finanzkrachs, also die Fähigkeit, seinen Schuldenverpflichtungen zeitgerecht und umfassend nachzukommen. Seit 1998 haben wir Russlands Kreditrating - eine ungemeine Erfolgsgeschichte - fortwährend erhöht. Aber wir machten bei "BB+", also einer Stufe unter Investitionsniveau, halt. Russland hat zwar hohe Liquidität - Gold- und Devisenreserven von 90 Mrd. Dollar, Ansparungen im neuen Stabilitätsfonds -, doch bestehen nach wie vor große Probleme, die mittel- oder langfristig akut werden können. Vor allem eine schwache Struktur der politischen und rechtlichen Institutionen.

STANDARD: Im Mai attestierte S&P Russland eine Bewegung in richtiger Richtung, vor kurzem aber werteten Sie die beobachtbaren Umstände als hinderlich für eine Ratingerhöhung. Warum?

Novikov: Was über die positiven Tendenzen gesagt worden ist, sagen wir auch jetzt noch: mit der Liquidität und den Reserven ist alles in Ordnung. Andererseits aber ist die Entwicklung in der Causa Yukos. Und hier ist nicht die Situation um Yukos für sich wichtig, wichtig ist sie zum Verständnis, wie die Perspektiven für das Investitionsklima in Russland ausschauen. Wir sehen, dass die Investoren extrem negativ auf die Causa Yukos reagieren. Es ist kein gutes Zeichen, dass heuer an die 17 Mrd. Dollar Kapital aus Russland abfließen. Wenn die Kapitalflucht weitergeht, werden die Perspektiven auf eine Diversifikation der Wirtschaft kleiner, es bleibt die Abhängigkeit vom Öl, die Infrastruktur bleibt unterentwickelt usw. Kurz: Das Land bleibt entweder so riskant wie bisher oder wird noch riskanter. Außerdem zeigt sich im Zuge der Yukos-Affäre, wie wenig stabil und resistent die politischen und rechtlichen Institute sind - diese unreifen Einrichtungen geben keine Investitionsstabilität ab.

"Bankensektor ist das schwächste Glied"

STANDARD: Ist Ihre Entscheidung also von der Affäre Yukos bestimmt?

Novikov: Wir beurteilen die Tendenzen in einem ganzen Komplex. Neben Yukos wurde etwa jetzt wieder augenscheinlich, dass der Bankensektor das schwächste Glied in Russland ist. Der reale Beginn von Reformen hat zu einer Minikrise geführt. Ja, und was Reformen betrifft, so mangelt es an der Umsetzung. Ob Pensions- oder Verwaltungsreform - überall gute Ideen, aber sobald sie umgesetzt werden sollen, scheitern sie.

STANDARD: Hat Russland Wachstum ohne Entwicklung?

Novikov: Ja, man kann herrliche Erfolge des Wachstums auf dem Papier demonstrieren und die Liquidität und Währungsreserven erhöhen - aber der Multiplikator dieses Wachstums ist unbedeutend. Für eine Entwicklung braucht es erhöhte Investitionsattraktivität. In den ersten vier Jahren hat Putin die Fiskalsituation gewaltig verbessert - Schulden wurden verringert, das Steuersystem geändert, die Reserven erhöht. Jetzt steht die Phase der realen Reformen an, und das ist schwer - dafür braucht es politischen Willen.

STANDARD: Ist der Wille zu sehen?

Novikov: Die Vorgänge zeigen eine Lähmung der Staatsmacht, eine Desorganisation. Man sieht eine Diskoordination, und das ist problematisch. Bis zu einem bestimmten Grad ist die Regierung derzeit damit beschäftigt, sich selbst zu reformieren - ich hoffe, dass sich das beizeiten ändert. (Eduard Steiner, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2.8.2004)