Paris - Die letzte, die 20. Etappe der 91. Tour de France war eine kleine Etappe für das Feld, eine große Etappe für einen Menschen. Lance Armstrong hat den letzten Tritt gesetzt, der ihn zum ersten Radfahrer mit sechs Gesamtsiegen in der 101-jährigen Geschichte der Tour de France machte. Seit 1999 ist Armstrong eine Klasse für sich, damals löste er den heuer im Frühjahr verstorbenen Marco Pantani ab, der 1998 Giro und Tour gewonnen hatte.

Dass der Deutsche Jan Ullrich die "Große Schleife" gewonnen hat, er gewann sie 1997, ist schon gar nicht mehr war. Ullrich war heuer wieder einmal als erster Herausforderer ins Rennen gegangen, nicht einmal dieser Rolle wurde er gerecht, am Ende belegte er hinter seinem T-Mobile-Teamkollegen Andreas Klöden und dem Italiener Ivan Basso (CSC) den vierten Rang. Die härteste Kritik kam just von Ullrichs Teamchef Walter Godefroot, der sagte: "Ein Champion wie Armstrong lebt für das Radfahren, Jan fährt Rad, um zu leben. Ich bezweifle, dass er von seiner Psyche her überhaupt in der Lage ist, so ein Leben zu führen. Er ist keine Bestie, kein Killer."

Lance Armstrong ist dieser Killer. Den "Kannibalen" nennen sie ihn spätestens seit den diesjährigen Alpen-Etappen, die er samt und sonders für sich entschied. In den Pyrenäen hat er einmal Basso den Vortritt gelassen, den dürfte er besonders schätzen, er wollte ihn sogar in sein US-Postal-Team holen, doch Basso versuchte es lieber auf eigene Faust, der dritte Platz gab ihm Recht. Armstrongs Team ist dennoch das mit Abstand stärkste, in den Bergen halten seine Domestiken abwechselnd das Tempo dermaßen hoch, dass die Gegner froh sind, wenn sie mithalten, und von einer Attacke nur träumen können. Den Rest erledigt der Chef himself, die zwei Zeitfahrsiege sagen alles, hinauf nach L'Alpe d'Huez und am Samstag in Besancon deklassierte er die Konkurrenz.

Am Freitag hatte Armstrong mit einer ungewöhnlichen Aktion für Aufsehen gesorgt. Er radelte einer Ausreißergruppe nach, in der sich der Italiener Filippo Simeoni befand, wenig später befand sich Simeoni nicht mehr in der Gruppe, sondern im Hauptfeld, die Kollegen hatten sich im doppelten Sinne von ihm distanziert. Gestern ein ähnliches Bild - immer wieder attackierte Simeoni, immer wieder wurde er von US Postal zurück geholt. Simeoni hatte Armstrong in einem Dopingprozess der Lüge bezichtigt und ihm - indirekt - Doping vorgeworfen. Nun kam Armstrongs Retourkutsche, nicht alle waren damit einverstanden - Ex-Radstar Laurent Jalabert, der nun für L'Equipe kommentiert, warf Armstrong "Sheriff-Methoden" vor.

Etliche Ex-Profis, darunter der dreimalige Tour-Sieger Greg LeMond (USA), sprechen im Zusammenhang mit Armstrong von unlauteren Methoden. Unmittelbar vor der Tour war Armstrong vor Gericht mit seinem Versuch gescheitert, die im Buch "L.A. Confidential" gegen ihn erhobenen Dopingvorwürfe durch einen Zusatz mit seiner Gegendarstellung zu kontern. Der Antrag des fünfmaligen Tour-Siegers wurde in Paris abgewiesen, geklagt hat er die Buchautoren indes nicht.

Der Hauptsponsor des Armstrong-Teams, US Postal, wird sich aus dem Geschäft zurückziehen, Armstrong hat seine Schuldigkeit getan, bekannter wird US Postal auch mit einem siebenten Toursieg nicht. Mit dem TV-Kabelsender "Discovery Channel" steht der nächste Hauptsponsor schon fest, einzig Armstrong selbst hält sich noch bedeckt, was eine Fortsetzung seiner Karriere anbelangt. "Noch habe ich keine Pläne", sagt er, doch er gesteht auch ein: "Ich kann mir nicht vorstellen, 2005 nicht dabei zu sein."

In die Anfeuerungen haben sich heuer Pfiffe und Buhrufe gemischt, wenn Armstrong durchs Spalier der Zuschauer fuhr. "Die großen Champions sind selten die Beliebtesten gewesen", sagt er, "besonders in diesem Land, in dem der Zweite oft mehr geliebt wird als der Erste. Aber wenn das der Preis ist, bevorzuge ich die Buh-Rufe." (DER STANDARD, Printausgabe, Montag, 26. Juli 2004, fri, APA, sid)