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STANDARD: Warum hat man sich in Deutschland so lange schwer damit getan, unvoreingenommen stolz zu sein auf die Verschwörer des 20. Juli?

Stauffenberg: Bei den Menschen in Deutschland gab es wohl eine viel größere Bereitschaft zu solchem Stolz. Politisierende Zugriffe aber haben wiederholt die jüngere deutsche Geschichte manipuliert. So haben Meinungsleser wie Meinungsmacher immer wieder Anstoß an den Verschwörern genommen, weil ihnen zu viele Soldaten waren oder lange Namen trugen. Apologetische Selbsttäuschung oder politisch-ideologische Fixierung nach dem Krieg führten hin bis zu geschichtsfälschender Enthüllungspublizistik, in Ost und West. Ihre Zuordnungen erinnern gelegentlich an marxistisch-leninistischen Klassenkampf.

STANDARD: Wie sehen Sie die Erinnerung an die NS-Zeit in Deutschland im Vergleich zu Österreich?

Stauffenberg: Auch Österreich könnte sich mit dem Widerstand allein nicht befassen. Mit ihm müsste man sich kritisch mit der ganzen Rolle des Landes während des Nationalsozialismus auseinander setzen. Zu groß war wohl die Versuchung, Österreich ausschließlich als Opfer von Fremdherrschaft zu sehen.

STANDARD: Wie hat Ihre Familie vom gescheiterten Attentat des 20. Juli 1944 erfahren?

Stauffenberg: Bei meiner Großmutter auf der Schwäbischen Alb aus dem Radio. Meine Mutter hat uns dann am anderen Tag gesagt, dass unser Vater tot ist. Zwei Tage später haben wir Kinder erfahren, dass in der Nacht meine Mutter und der Onkel meines Vaters weggebracht worden sind. Einige Tage später geschah das Gleiche mit meiner Großmutter und deren Schwester. Es war die Rede davon, dass sie im Gefängnis seien. Ich wusste als Sechsjähriger damals, dass da Leute hinkommen, die etwas Schlechtes getan haben. Das aber habe ich bei meiner Mutter und den Verwandten niemals gedacht.

STANDARD: Waren noch andere Verwandte von der Sippenhaft betroffen?

Stauffenberg: Mein Onkel Alexander und andere Verwandte kamen ins KZ, von Stutthof über Buchenwald, Flossenburg, schließlich nach Südtirol. Es wurden sogar ferne Verwandte festgenommen, nur weil sie Stauffenberg hießen. Die Mutter meiner Mutter ist im KZ an Typhus gestorben.

STANDARD: Was geschah mit Ihnen und Ihren Geschwistern?

Stauffenberg: Einige Tage später kamen Angehörige der Gestapo. Sie übernahmen gewissermaßen das Kommando über das Haus. Im Umgang mit uns Kindern schienen sie nicht bösartig. In Autos brachten sie uns vier Geschwister und die zwei Kinder meines Onkels Berthold in ein Kinderheim bei Bad Sachsa im Harz. Dieses Heim war in Eile freigemacht worden für Kinder von Beteiligten des 20. Juli. Wir sechs waren die Ersten, es kamen dann immer mehr, wie die Kinder von Cäsar von Hofacker oder Enkel von Carl Goerdeler.

STANDARD: Wie lange blieben Sie dort?

Stauffenberg: Bis die Amerikaner 1945 einmarschiert waren. Im März 1945 waren wir noch vom Kinderheim weggebracht worden, angeblich, um uns nach Buchenwald zu unseren Erwachsenen zu bringen. Wir fuhren nach Thüringen. Plötzlich gab es Fliegeralarm. Der Fahrer und die zwei Kindergärtnerinnen verließen das Auto, wir mussten drinnen bleiben. Ich sah, wie Bomben trudelten. Es ging dann nicht weiter und wir kamen dann wieder ins Kinderheim zurück. Dort wurden wir später aufgetan von der Schwester meiner Großmutter. Sie hatte bei französischen Besatzungssoldaten ein Fahrzeug organisiert. Sie fing dort an zu suchen, wo sie von uns die letzte Nachricht hatte.

STANDARD: Wie wurden Sie behandelt?

Stauffenberg: Offenbar gab es keine klaren Anweisungen, wie man mit uns, diesem Ballast, umgehen sollte. Sogar ärztlich wurden wir ordentlich versorgt. Ich hatte damals eine chronische Mittelohrentzündung. In einem Erfurter Krankenhaus wurde ich an den Mandeln operiert und geheilt.

STANDARD: Wurden Sie mit Ihrem Familiennamen eingeliefert?

Stauffenberg: Nein, unter dem Namen Meister. In dem Alter aber wollte ich nicht wahrhaben, dass ich nicht Stauffenberg heiße. Deshalb wusste nach kurzer Zeit jeder Arzt und jede Schwester, wer ich wirklich war. Aber sie haben alle den Mund gehalten.

STANDARD: Wusste keiner der Verwandten, wo die Kinder waren?

Stauffenberg: Doch. Ein Bruder meines Vaters war mit einer Fliegerin verheiratet. Auch sie wurde nach dem Attentat verhaftet, aber ihre Bekannten im Umkreis von Hermann Göring erklärten sie als unabkömmlich. Sie kehrte an ihren Arbeitsplatz zurück, stellte aber Bedingungen: Sie müsse immer erfahren, wo ihre Verwandten seien. Sie setzte auch durch, dass sie uns Weihnachten 1944 im Kinderheim besuchen durfte. Als wir ins Wohnzimmer der Heimleiterin kamen, saß unter dem Christbaum Tante Lita. Als Geschenke hatte sie aus der Vorratskammer der Luftwaffe Spezialverpflegungen und eine Hand voll Ehrenzeichen zum Spielen mitgebracht.

STANDARD: Wie erging es Ihrer Mutter?

Stauffenberg: Meine Mutter, die ein Baby erwartete, war in Sonderhaft zuerst im KZ Ravensbrück, dann in Frankfurt/Oder, wo das Baby zur Welt kam. Von dort kam sie in ein Krankenhaus nach Potsdam, unter dem Namen Schank.

STANDARD: Wann und wie haben Sie Ihre Mutter wieder getroffen?

Stauffenberg: Im März 1945 gelangten wir wieder zurück nach Lautlingen in Württemberg. Meine Mutter schaffte es auf abenteuerlichem Weg mit dem Baby dorthin. Beim Anrücken der sowjetischen Truppen war sie Richtung Böhmen geschickt worden. Im Zug hatte sie den begleitenden Soldaten überreden können, dass es für ihn besser sei, sich zu absentieren. Sie hat sich dann zu Fuß auf den Weg Richtung Westen gemacht und kam Ende August bei uns an. In Südtirol hatten Wehrmachtssoldaten die anderen Verwandten aus der SS-Bewachung befreit und den Amerikanern übergeben. Das war wie ein Husarenstreich.

STANDARD: Hat Ihre Mutter später berichtet, inwieweit sie über die Attentatspläne Bescheid wusste?

Stauffenberg: Sehr oft. Es gab eine Vereinbarung zwischen meinen Eltern. Sie wusste, dass ihr Mann das Regime nicht nur ablehnte, sondern im Widerstand aktiv geworden war. Entgegen der Darstellung in Filmen war sie nicht dagegen. Sie sollte aber Einzelheiten nicht wissen, falls der Umsturzversuch scheitern sollte, damit sie für die Kinder da sein konnte. Die Techniken, aus Menschen Wissen herauszupressen, waren bekannt. Im Gefängnis wurde meine Mutter intensiv verhört. Sie hat regelrecht trainiert, diese Rolle der Nichtsahnenden durchzuhalten. Es ist ihr gelungen.

STANDARD: Ihre Mutter war also nicht überrascht, als sie die Nachricht vom Scheitern des Attentats im Radio hörte?

Stauffenberg: Nein. Sie war überrascht, dass mein Vater die Schlüsselrolle innehatte. Sie hatte gewusst, dass er dabei war. Aber dass er im Mittelpunkt von Planung und Ausführung stand, wusste sie nicht.

STANDARD: Wie erklären sie Jugendlichen heute, was Widerstand ist?

Stauffenberg: Leider sind nur wenige angetreten, um Konsequenzen zu ziehen. Es waren keine heldenhaft Entrückten, keine Übermenschen. Unter ihnen waren auch solche, die sich früher am neuen Zeitgeist begeistert hatten. Es gab auch viele, die über Jahre mit sich gerungen haben. Über Recht zum Tyrannenmord ist im Kreis der Widerständler unerbittlich diskutiert worden. Sie hatten auf unterschiedliche Weise die Tatnotwendigkeit erkannt und angenommen. Sie haben sich nicht weggeduckt.

STANDARD: Was würden Sie, der Sohn des prominentesten Widerstandskämpfers, als Ihr persönliches Erbe beschreiben?

Stauffenberg: Jeder Mensch hat Verantwortung, für sich und die Welt. Aus ihr kann er nicht ausbrechen. Niemand kann ihm diese Verantwortung verbindlich vorformulieren. Er muss zur ständigen Prüfung selbst bereit bleiben. Man kann vor sich aus Verantwortung nicht fliehen und Versagen nicht leugnen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17./18 7. 2004)