Wien/Paris - Wahrscheinlich gibt es kaum etwas, das die Franzosen außerhalb von Parteibüros und Redaktionsstuben nun weniger beschäftigt als das Referendum zur EU-Verfassung, das Staatspräsident Jacques Chirac ihnen für die zweite Hälfte des Jahres 2005 in Aussicht gestellt hat.

Der Verlauf der Tour de France, das Lügengebäude der Marie L., die ein Wochenende lang das ohnehin schon muslimfeindlich gestimmte Land mit einem erfundenen Angriff von sechs nordafrikanischen Einwanderern in Atem hielt, die morose Wirtschaftslage schließlich, die dieser Tage in der Drohung der Unternehmensführung von Bosch in Lyon gipfelte, mehr als ein Drittel der Belegschaft zu kündigen und einen Teil der Produktion nach Tschechien auszulagern, sollte nicht eine Stunde in der Woche länger gearbeitet werden - alles liegt den Franzosen nun wohl näher als jene "wahre Debatte über ihre Zukunft", die Chirac am Nationalfeiertag vom Elysée-Palast aus ankündigte. Denn wie fast alle Referenden der 1958 geschaffenen Fünften Republik in Frankreich ist auch die Abstimmung über die EU-Verfassung im nächsten Jahr einem rein parteipolitischen Kalkül des Staatspräsidenten entsprungen. Entsprechend hoch ist das Risiko.

Die Franzosen könnten ihrem Unmut über Chiracs taktische Züge Luft machen und die Abstimmung durch eine niedrige Wahlbeteiligung entwerten: Fast 70 Prozent der Wähler gingen erst gar nicht zum letzten Referendum im September 2000, als Chirac um eine Verfassungsänderung für die Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten von sieben auf fünf Jahren warb und den Franzosen damit seine Wiederwahl schmackhafter machen wollte.

1972, als der damalige Präsident Georges Pompidou ein Plebiszit für seine bis dahin glanzlose Amtszeit wollte und ein Referendum über den Beitritt Großbritanniens in die Europäische Gemeinschaft anberaumte, stimmten 68 Prozent dafür - doch fast die Hälfte der Wahlberechtigten ignorierte das Referendum.

Mit der Abstimmung über die EU-Verfassung im Herbst 2005 will Chirac nun die Initiative für seine verbleibende Amtszeit bis 2007 zurückgewinnen. Wahlen stehen nicht mehr an, die Anwärter auf die nächste Präsidentschaftskandidatur drängen sich bereits vor - Wirtschaftsminister Nicolas Sarkozy im eigenen, rechten Lager; Laurent Fabius, und Dominique Strauss-Kahn bei den Sozialisten.

Die Linke will Chirac mit dem Referendum spalten, Sarkozy zur Unterstützung zwingen. Die Abstimmung könnte damit zu einem Referendum der Franzosen für oder gegen Chirac werden, ähnlich wie bei Fran¸cois Mitterrand 1992. Der erreichte mit 51,01 Prozent nur knapp die Zustimmung zum Maastricht-Vertrag. Eine Niederlage in einem der 25-EU-Staaten reicht aber, um die Verfassung als nicht ratifiziert auf Eis zu legen. (DER STANDARD, Printausgabe, 16.7.2004)