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Der 35-jährige Saxofonist aus Detroit über sein ganzheitliches Geschichtsverständnis.


Wien - Manchmal begibt es sich, dass man einen Musiker mit seiner eigenen CD überraschen kann: James Carter jedenfalls zeigte sich erfreut, als er des Exemplars von Gardenias for Lady Day (Sony) ansichtig wurde, das da gleichsam als Corpus delicti auf dem Interviewtisch lag. Konnte er sich so doch erstmals davon überzeugen, dass sein jüngster Billie-Holiday-Tribut, dessen Piecen er am Donnerstag bei einem umjubelten Jazzfest-Konzert in der Kammeroper präsentierte, in der europäischen Fassung tatsächlich jene beiden Bonus-Tracks enthält, die im Zuge der US-Veröffentlichung ausgespart worden sind. "Aus künstlerischen Gründen", wie er sagte, nicht ohne vielsagend zu lächeln. "Ich vereinbarte den 'Europe only'-Deal mit der Plattenfirma, sonst wären die Stücke gänzlich im Mülleimer gelandet." So wie eine andere Nummer: Bush's Ultimatum Blues, den wir am Vorabend des amerikanischen Angriffs auf den Irak aufnahmen, hat es nicht auf die Platte geschafft. Das war den Label-Leuten wohl zu heiß." Man hat's nicht leicht in Zeiten der großen Verunsicherung nach dem 11. September, in denen die US-Musikkonsumenten lieber heimelige Seelentröstungen à la Norah Jones vernehmen als unangenehme Fragen. Auch ein James Carter ist da keine Ausnahme.

Obwohl oder weil er als Schlüssel- und Konsensfigur des schwarzen Jazz gesehen wird: Als einer, der in den 80er-Jahren sowohl Wynton Marsalis als auch Lester Bowie zu seinen Förderern zählte, jene beiden Trompeter, auf deren öffentliche verbale Schlagabtäusche sich damals der ästhetische Konflikt zwischen Neotraditionalismus und historischer Free-Jazz-Avantgarde innerhalb der afroamerikanischen Szene zuspitzte.

Unpuristischer Blick

Und entgegen des von Marsalis propagierten Back-to-Bebop-Trends hat sich Carter bis heute einen unpuristischen Blick auf die Tradition bewahrt - wovon in den letzten Jahren großartige Alben wie das elektrische Funk-Jazz-Opus Layin' In The Cut oder auch Conversin' with the Elders zeugten, auf dem sich Duo-Gespräche mit dem über 80-jährigen Swing-Tenoristen Buddy Tate nebst solchen mit Free-Jazz-Bariton-Urgewalt Hamiett Bluiett fanden.

"Mein Blick auf die Jazzgeschichte ist ein holistischer, ich verstehe nicht, weshalb man irgendwo zwischendrin eine Grenze ziehen muss", so Carter. "Warum ich damit heute unter schwarzen Musikern ein Exot bin, ist schwer zu sagen. Es gibt viele, die Free Jazz ablehnen, weil seine technischen Errungenschaften ihre Fähigkeiten übersteigen. Und es ist ein Trend hin zur Institutionalisierung festzustellen, die auch Definitionsmacht bedeutet - die die, die an den Hebeln sitzen, festzuschreiben versuchen."

Auch Carters gesellschaftspolitische Wachheit findet zurzeit im diskursiv eher trägen Jazz nur wenige Parallelen. So begegnet man auf dem neuen Billie-Holiday-Album deren bekanntestem Stück in einer Furcht erregend aufwühlenden, von wilden Saxofon-Schreien getragenen Version wieder: Strange Fruits, die Song-Legende, die die in den 30er-Jahren noch alltägliche Lynchjustiz in den Südstaaten thematisierte, sieht sich so in unter die Haut gehender Eindringlichkeit aktualisiert.

"Strange Fruits legte die Basis für eine ganze Tradition politischer Protestsongs im Jazz und darüber hinaus, bis hin zu Public Enemy und den Last Poets", erklärt Carter seine Wahl. "Und der Song ist auch heute noch mehr als eine Erinnerung. Seit dem 11. September hat der Rassismus wieder zugenommen. Die soziale Lage in den schwarzen Gettos ist derart schlecht, dass der Weg für viele fast zwangsläufig zu Drogenabhängigkeit und Kriminalität führt. In gewisser Weise ist das Lynchjustiz auf andere, leisere Art." (DER STANDARD, Printausgabe, 10./11.7.2004)