In Portugal findet gerade die Fußball-Europameisterschaft statt, die Medien und Millionen Menschen laufen rund um die Uhr heiß - nur der Mann, mit dem ich in einem Wiener Kaffeehaus ins Gespräch komme, schaut mich an, als wolle er sich dafür entschuldigen, bis jetzt von allem nichts gewusst zu haben. Ach so, eine Fußball-Meisterschaft? Nein, ich habe das gar nicht mitbekommen, entschuldigt er sich mit anrührend altmodischer Höflichkeit und lächelt. Dabei finde ich Sport etwas sehr Schönes. Ein Mann meines Alters, den ich in diesem Moment am liebsten umarmt hätte, ganz gewiss aber fast bewundere. Alle wissen alles und mehr als alles über dieses Ereignis, alle reden darüber, alle - nur er nicht, der sich gerade gewissenhaft abmüht, Marillenmarmelade auf sein Brötchen zu streichen.

Warum schauen Sie mich so an? - Ich bin sicher, dass man eine Frage nicht vornehmer, nicht freundlicher stellen kann.

Und er hat Recht. Mir steht, während ich ihn anstarre, das nackte Staunen ins Gesicht geschrieben. Ich bin zu überrascht, um viel denken zu können, suche trotzdem aber nach einer Erklärung.

Sein Gesichtsausdruck lässt keinen Verdacht aufkommen, er könne mich lediglich ein wenig auf den Arm nehmen und wisse natürlich Bescheid und werde mich gleich einweihen und mir von einem Fußballer vorschwärmen, einem Zinedine Zidane, Wayne Rooney oder Luis Figo. Er wird, erst einmal beim Thema, Schiedsrichter wegen nicht gegebener Elfmeter tadeln oder laut den Kopf schütteln über einen gewissen russischen Milliardär, der verrückt geworden sein muss mit all dem Geld, mit dem er Spieler kauft für Vereine, die ihm gehören.

Aber von wegen. Er ist, was diese Welt angeht, unschuldig, oder sollte ich sagen: unantastbar gesund? Trotzdem, ganz nehme ich ihm seine splendid isolation nicht ab. Obwohl nichts dafür spricht, rechne ich mit dem Schlimmsten - ich halte die Befürchtung nicht für unwahrscheinlich, dass er gleich den Ton wechselt, und zwar vor Ärger darüber, wie es einem erwachsenen Mitteleuropäer nur einfallen könne, etwas wie Fußball so wichtig zu nehmen. Man kennt sie ja, diese sekundenschnell fanatisierten Eigenbrötler, die 22 kickende junge Männer für die Vorboten des Weltuntergangs halten, für Herolde des finalen Zerfalls der menschlichen Gattung, diese unduldsamen Sport-, Spiel- und Menschenverächter, diese Hasser der Freude.

Aber auch damit liege ich falsch. Seine Augen trüben sich nicht ein, sondern strahlen mich mit einer Neugier an, die, wenn auch gelassen, jeder Neuigkeit gilt, die ihm (aus welchem Grund auch immer) vollkommen entgangen sein muss. Leider, wie er sagt.

Wie einer, der die Zeitungen, die er vor der Nase hat, nicht liest, sieht er auch nicht aus. Da! Ich deute auf die Titelseite seines Exemplars. Da liegt ein junger Mann in schwarzblauer Sporthose und weißem Hemd im grünen Gras ausgestreckt auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten, wie tot.

Donnerwetter, sagt er, während ich auf weitere Reaktionen warte. - Ihn interessiert das Foto, aber nicht unbedingt im Zusammenhang mit dem Triumph und dem Weiterkommen der einen und der Schande und dem Ausscheiden einer anderen Nation. Er scheint von dem, was man den explosiven Kontext eines solchen Bildes nennen könnte, unberührt. Er ist kein Ignorant oder Besserwisser, sondern einfach ein Teilnahmsloser, den die Fähigkeit des großzügig aufgemachten Fotos erfreut, das Blau und Weiß und Grün, und das inmitten all der Druckerschwärze.

Ob er einen Fernseher hat, frage ich den Mann.

Hat er, wie er sagt, einen in Farbe sogar. Und? Sie meinen, ich sollte mir mal so ein Spiel anschauen?

Falls Sie wissen, was das ist: Fußball, sage ich so höflich wie es es geht.

Oh natürlich! Das weiß doch jedes Kind. Ein schönes Spiel, sagt er und erinnert sich. Als kleiner Bub hab' ich das selbst gerne gemacht, mit anderen, die das natürlich alle immer sehr, sehr ernst genommen haben. Wieder dieses Lächeln, liebenswert und nachsichtig, ein Mensch, der nicht auf dieser Erde zur Welt gekommen sein kann, nicht jedenfalls innerhalb der letzten hundert Jahre.

Sie werden doch irgendwie davon gehört haben, sage ich, gehört haben müssen, Spanien und Deutschland und auch die Italiener ausgeschieden schon in der Vorrunde und die Engländer - was für ein Spiel! - ausgeschieden gegen die Portugiesen - und die Titelverteidiger aus Paris gegen die Griechen ...

Er hört sich alles an. Er ist ganz bei der Sache, seine Augenbrauen bestätigen das. Und Sie meinen, ich sollte mir einen Abend dafür frei nehmen?

Ich nicke, von der Vernünftigkeit meines Vorschlags nicht übermäßig überzeugt. Was, wenn er ausgerechnet ein Spiel zu sehen bekommt, das zu wünschen übrig lässt, eine Partie voller Fouls, vielleicht sogar Tätlichkeiten?

Ich verabschiede mich. Ich muss ja vor die Glotze.

Am Nachmittag des nächsten Tages treffe ich ihn an gleicher Stelle wieder.

Und, will ich wissen, haben Sie?

Ich glaube, ich bin irgendwann eingeschlafen, gesteht er, einfach so. Aber bis dahin habe ich alles mit Vergnügen verfolgt. Ich danke Ihnen. Hätte ich doch glatt was verpasst.

Ich bin unfähig, mich mehr zu wundern als menschenmöglich. Kein Wort zum Spiel, zur Taktik, zum Ergebnis. Die Frage, wer denn nun Europameister wird, löst in einem Herzen wie seinem keine Unruhe aus, nicht die geringste. Was ihn betrifft, so haben Sonnenblumengelbe gegen Granatapfelrote gespielt, eine Farbe gegen eine andere, und jede Farbe sei, wie es ihm aufgefallen sei, anders temperamentvoll gewesen, anders lebendig. Den Rasen nennt er wieder eine Wiese, Fußball sei ein Spiel vermischter Farben, ein Fest für Menschen, die mit bemalten Gesichtern, bunten Kleidern und Fahnen feiern.

Ich sehe ihm die Freude an, so viele Menschen so glücklich gesehen zu haben. Die Tränen jener anderen, deren Mannschaft besiegt und ausgeschieden ist, behält er für sich - wie es einer tut, der diese Traurigkeit kennt, die eigene, über die Fremden gegenüber zu sprechen ihm rücksichtslos erschiene. (Der STANDARD Printausgabe, 3./4. Juli 2004)