Chandigarh 1994

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Aglaia Konrad

Das dritte Jahrtausend verspricht, ein Jahrhundert enormer Verstädterung und riesiger Stadtagglomerationen zu werden. ForscherInnen gehen davon aus, dass um das Jahr 2025 an die 85 Prozent der EinwohnerInnen des industriellen Nordens in Städten wohnen werden. In den Ländern der sogenannten Dritten Welt sollen es immerhin 55 Prozent sein. Damit würden zum ersten Mal in der Geschichte deutlich mehr Menschen nicht mehr auf dem Land, sondern in städtischen Zonen zu Hause sein.

Aglaia Konrad, Trägerin des "Camera Austria-Preises der Stadt Graz für zeitgenössische Fotografie" 2003, reiste im Zuge ihrer Projekte in zahlreiche Großstädte beziehungsweise Mega-Cities der ganzen Welt. Und auch die gerade in der CAMERA AUSTRIA gezeigte Einzelausstellung der in Brüssel lebenden österreichischen Fotografin beschäftigt sich mit diesem zeitgenössischen Phänomen.

Randerscheinungen und Peripherie

In den 1990er Jahren soll die tägliche Zunahme der städtischen Bevölkerung in der Dritten Welt bei etwa 160.000 Personen geleben haben und die Zahl der Megastädte* nimmt ständig zu. In Konrads fast schon parodistischem Zugang zu Architekturfotografie – sie vermeidet unter anderem repräsentative Abbildungen von Prestigebauten – versucht auch sie, Architektur und Stadtentwicklung als permanenten Prozess zu skizzieren. Ihre Bilder zeigen Übergangssituationen, Baustellen und noch nicht besetzte Räume und führen so die vielfach als unkontrollierte Expansion des internationalen Kapitals bezeichnete Globalisierung als gebauten Raum vor.

An den Rändern, in der Peripherie und an den Randzonen scheint diese Entwicklung besonders fruchtbar vor sich zu gehen. Beherrschen doch die Speckgürtel des industriellen Nordens und die illegalen Slumzonen des Trikont durch ihr überdurchschnittlich schnelles Wachstum immer mehr die urbanen Räume.

Vereinheitlichung und Gleichschaltung

Aber nicht nur wegen ihrer Größendimension, sondern auch aufgrund ihrer neuen qualitativen Dynamik scheinen Megastädte das Interesse an sich zu ziehen. Eng verbunden mit den Veränderungen der Weltwirtschaft – Globalisierung der Produktion, Internationalisierung der Finanzmärkte und die enorme Beschleunigung von Information und Transport – verschiebt sich auch die Geografie der Macht. Megastädte werden zu Kristallisationspunkten, und auch die Städte der "Dritten Welt" werden von dieser Dynamik – die immer auch den kalten Hauch des wirtschaftlichen Wettbewerbs mit sich trägt – erfasst.

Aber Wettbewerb zwingt auch dazu, "mitzuhalten", sich anzupassen. In den Städten schreibt sich dieser Anpassungsdruck ebenfalls in der Architektur nieder. Und wie wir nie genau wissen, in welchem H&M wir gerade ein Shirt aus Rumänien gekauft haben – ob in Berlin, in Maribor, Mexico City oder Warschau – genauso unmöglich ist es, die städtischen Ausschnitte auf Konrads Bildern mit Sicherheit zuzuordnen. Erinnerungen und Projektionen verschwimmen, und war das jetzt Chicago 1998 oder doch Dakar 2001?

(e_mu)

*Megastadt bzw. Mega-City bezeichnet Städte mit über fünf Millionen EinwohnerInnen.