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Die US-Flagge geht auf Halbmast, die alte irakische - mit den drei Sternen für die drei Provinzen - wird wieder hochgezogen. Das Allahu Akbar ist allerdings nicht mehr von Saddams Hand.

Foto: REUTERS/Nikola Solic
Arme Iraker, die Leichtfertigkeit, mit der sie früher die "Existenz" Kuwaits diskutierten (was nicht heißen soll, dass alle von ihnen 1990 die Invasion begrüßten), haben sie nun selbst zu erdulden. Den Irak, den gibt es doch historisch gar nicht, er ist eine britische kolonialistische Erfindung, die eben nun an ihrem natürlichen Ende angekommen sei - das hört man verschiedentlich auch von Leuten, die Mossul und Basra vielleicht nicht auf Anhieb auf der Landkarte finden würden. Was sind schon 80 Jahre Irak im Laufe der Geschichte?

Man kann - wie etwa der israelische Politikwissenschafter Shlomo Avineri - das natürlich auch seriöser argumentieren (wie könnte auch ein intelligenter Israeli jemals vertreten, dass ein Staat der Neuzeit ganz einfach als kurze Episode wieder aus der Weltgeschichte verschwinden könnte?). Avineri tritt für eine Teilung des Irak ein, indem er zwar ebenfalls auf die unnatürliche Zusammensetzung - "drei ungleiche Provinzen" - verweist, aber wohl zu Recht anführt, dass, wenn Demokratisierung und Nation Building, wie im Falle des Irak nach Saddam Hussein, zusammenfallen müssen, die Sache noch viel schwieriger wird, wenn eine zerstrittene Gesellschaft - Kurden, Sunniten, Schiiten - dazukommt. Wobei Avineri natürlich übersieht, dass die Brüche in der irakischen Gesellschaft nicht nur entlang dieser Linien laufen.

Wenn ich meine irakischen Freunde und Bekannten - zugegeben, alle aus sozial höheren Strata - vor meinem geistigen Auge Revue passieren lasse, so finde ich kaum ein ethnisch oder konfessionell "reines" Paar. Da ist, weil sie ein besonders gutes Beispiel sind, etwa die Schiitin R., die ganz gerne in einer der christlichen Kirche Bagdads zu Maria, in diesem Fall natürlich nicht Gottesmutter, betet, mit ihrem sunnitisch-kurdischen Ehemann S. Beide würden lachen, wenn sie wüssten, wie ich mich hier plage, um zu erklären, dass sie "Iraker" und typische Bürger genau dieses Irak, in seinen bestehenden Grenzen, sind. In diesem Irak erleben sie aber heute zum ersten Mal seit dessen Bestehen ein politisches ethnisches/konfessionelles Proporzsystem: Der Präsident ist Sunnit, die Vizepräsidenten ein Schiit und ein Kurde, der Premier ist Schiit, der Vizepremier Kurde etc. Wobei im Fall der Konfession die Zugehörigkeit schon wieder ein durch die Realität nicht gedecktes Konstrukt ist: Wenn etwa der ausgefuchste Neocon-Exliebling Ahmad Chalabi ein "schiitischer Politiker" ist, dann ist die Verfasserin dieses Artikels nichts weniger als eine katholische Publizistin.

Trotzdem macht Chalabi, der immer gewusst hat, wo die Macht zuhause ist, heute gewissermaßen "schiitische Politik". Die zum Zwecke der Politik "wiedererfundenen" religiösen Identitäten stören den niederländischen Kulturwissenschafter Ian Buruma (kürzlich als Gast des Bruno-Kreisky-Forums in Wien), der sich mit dem Thema "Identität" intensiv auseinander setzt, aber nicht: "Am Beginn eines Vielparteiensystems braucht man eben Wege, um die Menschen zu mobilisieren", und dass man da mit religiösen Zugehörigkeiten arbeitet, das sei doch in Europa nicht anders gewesen. Am unteren Ende könne trotzdem eine Demokratie herauskommen: "Religiöse Parteien sind ein Weg, um Konflikte einer politischen Lösung zuzuführen", sagt Buruma im Gespräch mit dem STANDARD.

Denjenigen der irakischen Freunde, die befürchten, dass am unteren Ende ein islamischer Staat herauskommt, setzt er das Beispiel Türkei entgegen: "So demokratisch wie noch nie", unter einer islamischen Regierung. "Das Wichtigste, wenn man eine Demokratie bauen will, ist, die Leute zum Mittun zu bringen, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie repräsentiert werden. Und wenn sie das Gefühl haben, dass sie am besten entlang religiöser Linien repräsentiert werden, dann ist das nicht automatisch schlecht."

Also keine Angst vor Religion, aber wie ist das mit "Nationalitäten"? Wie kann ich eine moderne Staatsform für die Iraker wollen, und nicht nur der Konfessionszugehörigkeit, sondern auch dem nationalistischen Konzept Araber/ Kurde einen höheren Stellenwert beimessen als dem des modernen "Bürgers"? Noch dazu in einem Land, wo es noch viele andere Minderheiten - Stichwort Christen, Stichwort Turkmenen - gibt, die in diesen Konzepten einfach unter den Tisch fallen? Und warum gibt es relativ viel israelische und jüdische Autoren, wie Avineri, die sich für einen irakischen Kurdenstaat, also für den kurdischen Nationalismus, einsetzen (noch dazu, wo Israel auf der anderen Seite der Grenze seinem militärischen Partner Türkei bei der - euphemistisch gesprochen - Eindämmung der kurdischen Ambitionen jahrelang tatkräftig behilflich war)?

Der Palästinenser Abbas Shiblak, der sich seit Jahren mit der Geschichte der Juden im Irak befasst, meint im Gespräch, dass es israelische "Politik" sei, "Grenzen zwischen Gemeinschaften setzen zu wollen gemäß ihrer natürlichen kulturellen Umgebung". Aber auch für die Israelis, so Shiblak, würden sich im Fall eines arabisch-israelischen Friedensschlusses neue Fragen zum Thema "Identität" stellen - wenn man sich als Israeli in der Region erst einmal frei bewegen könnte. Mein Einschub: Dann müsste man wohl endgültig in der Region "ankommen", etwas, was viele Israelis, besonders solche mit westlichem Hintergrund, fürchten (aus zum Teil guten Gründen).

Shiblak: "Wenn der Raum für beide Gemeinschaften offen wäre, dann hätte das Folgen dafür, wie man einander, aber auch wie man sich selbst sieht." Aber noch ist es nicht so weit. Vielleicht wäre ja die Existenz eines in der Region ebenfalls ungeliebten irakischen Kurdenstaates so etwas wie ein Trost in der Einsamkeit für Israel (jetzt einmal abgesehen von anderen, praktischen Vorteilen wie der Ausschaltung des Irak als territorial großer Spieler und dem Ärger, den Syrien und der Iran mit ihren eigenen Kurden zu erwarten hätten. Die Partnerschaft mit der Türkei ist, seit die USA im Irak sitzen, für Israel nicht mehr so wichtig wie zuvor).

Wenn Shiblak von "beiden Gemeinschaften" spricht, dann meint er Israelis und Araber, weniger Aufmerksame, auf beiden Seiten, würden sagen "Juden und Araber". Die irakische Identität der irakischen Juden wurde jedoch unlängst bei einer kleinen Konferenz in Wien zelebriert, durchaus in dem Sinne, dass irakische Juden jüdische Araber waren, solange ihnen das von der Politik gestattet wurde: Im Irak gab es arabische Juden, arabische Christen und arabische Muslime. Der Ethnisierung des Begriffes "Jude" als Gegensatz zum "Araber" entspricht ein Phänomen, das Yehouda Shenhav, Soziologe in Tel Aviv so beschreibt: "Wenn Gastarbeiter nach Israel kommen, kommen sie als ,Nicht-Juden' an, nach kurzer Zeit verwandeln sie sich in ,Nicht-Araber', die in ihren Kirchen für die israelische Armee beten." Shenhav erinnert auch an die These, dass es beim "Rückkehrrecht" nicht so sehr um Juden, als um Nicht-Araber gehe (das wird von manchen Israelis, die die russische Emigration beklagen, ähnlich gesehen).

Aber zurück in den Irak, wo, wenn man Seymour Hersh vom New Yorker glaubt, der Mossad im Kurdengebiet sehr aktiv ist, was weder der Anerkennung der Kurden als "echte Iraker" noch jener der irakischen Juden gut tun wird (falls Letztere denn noch Wert darauf legen). Die echten Iraker, das sind nach ihrem Selbstverständnis aber auf alle Fälle die arabischen Stämme, seien sie sunnitisch oder schiitisch - wobei im Irak, solange er noch an die von der Baath-Partei verordnete Modernisierung glaubte, allgemein auf die Stammesgesellschaften der arabischen Halbinsel hinuntergeschaut wurde. Erst in den 90er-Jahren, als der Staat schwächer wurde und Saddam sich nicht mehr nur auf seinen Clan und seine Funktionäre stützen wollte, kamen die Stämme zurück, zum Teil künstlich wiederbelebt.

Mit Stadt/Land hat das nicht unbedingt zu tun, im Irak leben mehr Menschen in Städten als im europäischen Durchschnitt, viele davon Stammesangehörige. Früher galten die Städte als "osmanisiert", die echten Araber wohnten auf dem Lande. Nun hat aber in der Post-Saddam-Ära gerade das städtische Proletariat von Bagdad ein irakisch-nationalistisches, gleichzeitig schiitisch-islamistisches Programm auf seine Fahnen geheftet: für die Herrschaft der religiösen irakischen Schiiten im Gegensatz zu den religiösen iranischen Schiiten, oder korrekter, den religiösen, aus dem Iran stammenden Schiiten, wie zum Beispiel dem Lieblingsmullah der Iraker, Ayatollah Ali Sistani, von dem niemand weiß, ob er einen Pass besitzt und welchen, einen irakischen oder einen iranischen.

Der radikale Schiitenführer Muktada al-Sadr und seine Anhänger mobilisieren damit, dass nur die Familie Sadr die einzig echte irakische, sprich arabische, unter den großen schiitischen Gelehrtenfamilien ist (worüber man heftig streiten könnte). Der Einfluss der iranischen Schiiten auf den Südirak, den die USA befürchten - die Iraner haben das Geld und die effiziente Geheimdienste -, mag zwar bedeutend sein, aber Muktadas Erfolg zeigt ein anderes Stück echt irakischer Realität: Der Großteil der Hunderttausenden einfachen irakischen Soldaten, die im Irak-Iran-Krieg, im Kampf gegen iranische Schiiten, gefallen sind, waren irakische Schiiten: ein wichtiger grausamer Schritt in der Nationwerdung des Irak. Ein schiitischer irakischer Stammesangehöriger hat mit einem sunnitischen irakischen Stammesangehörigen bestimmt mehr gemeinsam, was das Alltagsleben betrifft, als mit einem Teheraner oder Isfahaner (der seinerseits den irakischen Schiiten vielleicht als "Eidechsenfresser" bezeichnet, für die noblen Perser sind das doch ganz einfach Halbwilde).

Wobei die Dichte von Leuten, die direkt vom Propheten Muhammad abstammen wollen, naturgemäß im Irak höher ist als im Iran, nicht nur, weil dort Araber wohnen, sondern weil das ein Stammbaum war, den man sich mit Erreichen eines gewissen sozialen Status gern selbst verlieh. Saddam Hussein hat ja auch nichts anderes getan - wobei er neben dem islamischen Adel auch noch Saladin (einen Kurden!) und den alten Nebukadnezar zumindest metaphysisch inkorporierte. In diesem Sinne ist Saddam Hussein ein echter Iraker, schwer aufzudröseln. (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 3./4.7.2004)