Natürlich rettete beim letzten Zeitfahren im Regen Armstrong seinen Vorsprung. Nicht nur, weil er sich seinen Nachnamen mit dem ersten Mann am Mond teilt - auch das Wetter ist ja eine kosmische Kraft, die irdisch analysiert werden muss -, sondern ganz simpel auch deshalb, weil der Klügere vor einer Kurve, in der vor ihm schon mehrere Fahrer gestürzt sind, abbremst.

Die Kraftkammer des Epos ist übrigens nicht der Kampf, sondern das Zelt, in welchem dieser vorbereitet wird. In diesen Zelten tummeln sich, neben Werbeberatern und Mechanikern (Armstrong schwört auf die Weltraumtechnik) vor allem die Ärzte: Jan und Lance bevorzugen, wie Le Monde böse anmerkte, die italienische medizinische Schule. Beider Ärzte waren in Dopingskandale verwickelt. Armstrong berechnet aber auch ins winzigste Detail hinein seine Routen, seine inneren medizinischen und die äußeren: Intellekt, mit körperlicher Kraft in einer Person vereint, das war das Neue, was dieser Held nach Frankreich trug.

Rein körperlich haben die anderen jetzt schon den Anschluss gefunden, und deshalb wurde es beim fünften Erfolg auch knapper als bei den voranliegenden. Etwa 750 Meter Vorsprung, nach 3204,5 Kilometern! Vor allem Josepa Beloki, bei einer der mit 90 km/h genommenen Alpenabfahrten gestürzt, wäre in den Pyrenäen vielleicht davongezogen. So leichtfüßig wirkte er, der Basken-Merkur. Und das bei 40 Grad und bei solchen Steigungen.

Hitze und Regen: Nicht nur gegen die Mythen der Berge und die Mühen der Ebenen kämpfen die Rennfahrer, sondern auch gegen den Kosmos, der sie, vermittelt im Wetter, quält. Das unvorhersehbare Zusammenwirken von Wetter- und Etappenkarte macht dieses Epos, das - wie schon bei Homer - an die physischen und terrestrischen Grenzen vorstößt, so packend.

Das geografische Modell für die Tour lieferte übrigens ein Kinderbuch, das nach der Niederlage gegen Preußen 1870/71 Furore machte: Zwei Waisenkinder aus Lothringen durchreisen Frankreichs Landschaften. Ein Loblied auf die Republik. Auch das heurige 100-Jahr-Jubiläum schrieb die Etappen in diesen Gedächtnisort ein: von St. Denis, wo über 1200 Jahre hin die Könige gekrönt wurden, durch Jeanne d'Arcs Lothringen in die erst spät kolonisierten Pyrenäen. In der Hitze vorbei an Wasserfällen; im Durst vorbei an den Weinen aus Bordeaux: Der TV-abhängige Sadist wird zärtlichst bedient.

Dazu kommt, dass auch diesmal die Landschaft Frankreichs sich zur apokalyptischen Schädelstätte ausweitete: Da liegen die Leiber der Gestürzten, von Beloki bis Peschel. Darüber hin reitet Lance Armstrong. Fortsetzung folgt, leider erst nächstes Jahr. (Richard Reichensperger, DER STANDARD Print-Ausgabe, 28.7.2003)