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Sorge vor Anschlägen: Istanbul war vor dem NATO-Gipfel bereits Schauplatz mehrerer Bombenexplosionen.

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Grafik: Der Standard
Nato-Gipfel beginnen jetzt immer mit einem rhetorischen Kniff: Fehler einräumen, Kritikern Recht geben, Objektivität suggerieren, dann die große Widerlegung. Das vergangene Jahr war in jeder Hinsicht ein hartes Jahr für die transatlantischen Beziehungen und für die Allianz, sagt Jaap de Hoop Scheffer, spricht von größeren Spannungen über den Atlantik hinweg, erinnert an die Politikexperten, die "unversöhnliche Meinungsunterschiede" zwischen Amerika und Europa erkannten. Alles vorbei.

"Heute ist die Situation deutlich anders", behauptet der Nato-Generalsekretär in seiner Rede, die er am Sonntag bei einer Konferenz des German Marshall Fund in Istanbul kurz vor Eröffnung des Nato-Gipfels hielt. "Es gibt einen neuen Impuls in der transatlantischen Sicherheitskooperation. Und die Nato erfährt eine neue Wertschätzung als das Hauptinstrument dieser Kooperation."

"Neuer Atlantizismus"

Scheffer hält noch ein halbes Dutzend solcher Reden an diesem Sonntag, die so oder ähnlich schon 2002 (Washington übergeht die Nato nach den Anschlägen vom 11. September) oder 2003 (Nato spaltet sich in der Frage des Irakkriegs) gehalten wurden. Doch alles soll dieses Mal in Istanbul, beim ersten Gipfel der nun auf 26 Staaten erweiterten Allianz, noch größer werden: Scheffer ruft einen "neuen Atlantizismus für das 21. Jahrhundert" aus, eine Art euroamerikanische Sicherheitskirche, gegründet auf gemeinsam geteilten Werten und mit Blick "über Europa hinaus". Dort nämlich, in Afghanistan, im Irak und in der weiter gefassten Region des Nahen Ostens, soll die Nato ihre neuen Aufgaben erfüllen.

Die Meinungen der Staats-und Regierungschefs der Allianz sind dabei durchaus gespalten. Mit der Kommandoübernahme in Afghanistan, wo die Nato seit dem Sommer 2003 die Internationale Schutztruppe Isaf in Kabul führt und seit vergangenen Dezember auch ein regionales Aufbauteam in Kundus, im Norden des Landes, sind die Allianzmitglieder zwar durchaus einverstanden. Doch mehr Soldaten und Transportkapazitäten stellten sie trotz der unaufhörlichen Appelle des Nato-Generalsekretärs, wenn überhaupt, nur zögernd zu Verfügung (s. u. Einsatzfähigkeit).

Der Auftritt von Afghanistans Staatspräsident Hamid Karsai in Istanbul soll nachhelfen. Der Gipfel wird laut Regie die Entsendung von weiteren 1200 Soldaten der Nato-Staaten beschließen. Sie sollen über die Sicherheit bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im September wachen - 5000 Soldaten sehen die UNO und die afghanische Regierung als Minimum an. Schließlich kann die Isaf nicht einmal in Afghanistans Hauptstadt Kabul Sicherheit vor Anschlägen der Taliban- und Al-Kaida-Kämpfer garantieren.

Gegen ein Engagement der Nato im Irak sind weiterhin vor allem Deutschland und Frankreich. Berlin ist nun immerhin bereit, nicht nur irakische Polizisten, sondern auch Soldaten auszubilden, jedoch außerhalb des Landes. Drei Tage vor der offiziellen "Machtübergabe" der Amerikaner im Irak bemühte sich George W. Bush deshalb, den Boden für den großen Konsens von Istanbul zu bereiten. Beim EU-USA-Treffen an der irischen Westküste am vergangenen Samstag erklärte der amerikanische Präsident den Streit mit den Europäern über den Irak für beendet: "Die bitteren Differenzen über den Krieg sind vorüber."

Kompromissformel

Als Kompromissformel zum Irak wird eine Zusage der Nato-Führer erwartet, das polnische Kontingent im Süden des Landes weiter logistisch zu unterstützen. Andere Staaten dürften sich auch dem Schritt Deutschlands anschließen und - einer Bitte des irakischen Übergangspremiers Iyad Allawi folgend - die Ausbildung von Sicherheitskräften übernehmen.

Weit gehend desillusioniert oder - im Fall der Osteuropäer - eher gleichgültig geht die Nato nach Ansicht von Gipfelbeobachtern in die Debatte um die transatlantische Partnerschaft mit dem Nahen Osten und Nordafrika. Der unabhängig voneinander vom deutschen Außenminister Joschka Fischer und US-Präsident Bush vorgebrachte Plan soll zu einer "Istanbul Kooperationsinitiative" verdünnt werden. (DER STANDARD, Printausgabe, 28.6.2004)