Foto: Süddeutsche Bibliothek
Die Geschichte war die große Verbündete der Erzählkunst Marguerite Yourcenars. Die Repräsentantin und Antipodin der Moderne beobachtete das bildnerische Werk der Geschichte allenthalben, in Museen, Konzerten, im Theater und in der Literatur, wo die Hervorbringungen der Menschheit den Launen der Epochen ausgeliefert sind, als wären sie lebendige Wesen.

Die Götter des Parthenon verwesen in der Londoner Großstadtluft zu Gespenstern, der Kopf der Psyche rückt nach dem Sturz vom Sockel neben die Kloben Rodins, die rasende Phädra des Euripides verwandelt sich bei Racine in ein menschliches Wesen zurück: In einer Folge von Alterungsprozessen und Anverwandlungen erneuern sich Kunst wie Geschichte.

So sind auch die Romanfiguren Yourcenars von geschichtlichem Dasein erfüllte Gestalten, die auf dem Weg in die Gegenwart ihre verwandelnde Auferstehung als Zeitgenossen erleben, Kaiser, Fürsten oder, wie in unserem 1939 erschienenen Roman, die preußisch-baltische Aristokratie nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Vor den Augen des Lesers öffnet sich der Vorhang zu einem Schauspiel verlorener Kämpfe, das in großartiger Vorwegnahme die Bedeutung des historischen Augenblicks erkennt, die Ab- lösung einer Epoche, den Untergang Europas und den Aufstieg des amerikanischen Zeitalters.

Der Schauplatz ist ein zerschossenes Schloss in einem verlorenen Winkel Europas, wo sich im Jahre 1919 preußisch-baltische Freikorps der Roten Armee entgegenwerfen. Die klassische Einheit von Ort, Zeit und Handlung hebt das dynamische Binnengeschehen von der Statik der Außenwelt ab und verwandelt die Bühne in jenen absoluten Raum, in dem die Todesnähe und Schicksalsverbundenheit der Figuren ihrem Handeln die Zwangsläufigkeit der Tragödie verleihen.

Ein Band kühn offenbarter Leidenschaften fesselt die junge Schlossherrin Sophie von Reval, ihren Bruder Konrad und den Offizier Erich von Lhomond aneinander. Wenn im letzten Romanbild Sophie als gegnerische Gefangene vor dem Geliebten steht, der sie zurückgewiesen hat, so vollendet sich das Drama, das mit dem Fronturlaub der beiden Freunde begann, aber nur scheinbar. Denn der Roman ist in Ichform geschrieben. Vor die Ereignisse tritt der Überlebende der Tragödie, ein Gezeichneter: Erich von Lhomond, der vor Reisenden in Italien seinen Erinnerungen die Stirn bietet.

Die Intonationskunst der Autorin erlaubt dem Leser, durch das Spiel von Enthüllung und Verhüllung hindurch die Wahrheit über seine Liebe zu Konrad und den menschlichen Respekt zu erkennen, den er seiner überlegenen Gegenspielerin Sophie entgegenbringt, die ihn richtet, indem sie ihm den Todesschuss auferlegt.

Es ist dieser Schlussakt, der den Roman auf jene zeitlose Gerichtsebene hebt, wo er sich negativ auf heilsgeschichtliches Denken bezieht und vorausweist auf Becketts Endspiel . (DER STANDARD, Printausgabe, 26./27.6.2004)