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Einmal im Jahr wurde das Kalb ins Zimmer getragen und auf den Diwan gelegt. Alle anderthalb Stunden, täglich, sagte meine Großmutter: "Mir tickt die Wolke durch den Kopf." Das eine hat mit dem anderen zu tun: Im Frühsommer fährt der Großvater mit dem Pferdewagen an den Fluß Sand holen. Er steht viel zu lang im kalten Wasser. Schon am Tag darauf spürt er ein schneidiges Ziehen im ganzen Körper, als spüle sich ihm der Fluß auch zu Hause in kalten Wirbeln durchs Fleisch. Der Großvater kann sich kaum noch bewegen. Wenn er sich rührt ist ihm, als würde der Körper in Stücke brechen. Der Stadtarzt sagt: Im Nacken die Nerven sind erfroren. Auf diese Nerven sind wir angewiesen, sie sind die Fäden, die uns vom kleinen Finger bis zum kleinen Zeh biegsam machen. Sie steuern jede Bewegung. Die Fäden im Nacken halten uns auch beim Gehen, ohne sie würden wir umfallen wie ein Stück Holz. Der Arzt operiert den Großvater am Nacken. Die Operation mißlingt. Der Großvater wurde steif wie ein Pflock aus dem Spital zum Sterben nach Hause ins Bett geschickt. Statt die Fäden im Nacken neu zu knüpfen, hat der Arzt sie alle durchgeschnitten, sagte man mir als Kind. KNÜPFEN ist seither für mich ein wichtiges Wort, das Gehorchen der Gelenke hat mit KNÜPFEN zu tun, daß wir den Körper, den wir haben, morgens in den Tag und abends in den Schlaf schicken können. Daß wir über ihn nur solange verfügen, wie lang er richtig geknüpft ist. Danach verfügt er über uns. Vor meiner Geburt wurde der Großvater zum Sterben nach Hause geschickt, aber in seinem Bett lag er, bis ich zwölf Jahre alt geworden war. Das Liegen tat ihm weh, war eine Quälerei, alle Haut, die er hatte, eine einzige Wunde. Er lag auf drei aufgeblasenen Gummischläuchen. Einer zwischen den Schultern, einer im Kreuz, einer in den Kniekehlen. Sein Stöhnen kam mir als Kind so gewöhnlich vor, wie bei anderen das Reden. Es gehörte zum Zimmer, in dem er lag, als hätte nicht er, sondern die Luft diese Stimme, oder ein Möbel, oder die Wand, der Plafond, oder die Tür. Er mußte alle anderthalb Stunden hochgehoben und ein bißchen anders auf die Gummischläuche hingelegt werden, ein bißchen mehr auf die rechte oder linke Seite. Er war leicht, aber zum Hochheben und Umlegen Dutzende Male Tag und Nacht war er schwer.
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Egal, ob meine Großmutter im Hof, im Garten, im Laden, bei Nachbarn oder auf dem Feld war, sie trug zwölf Jahre lang überall eine Tasche mit einem Wecker bei sich, eine Tasche aus schwarzen und dunkelroten Lederstreifen geflochten, schlabbrig und speckig vom vielen Gebrauch. Dreimal mußte der Schuster neue Griffe drannähen, weil die alten zerschlissen waren. Der Wecker läutete jede anderthalb Stunde in der Tasche, wenn es Zeit war, ihren Mann ein bißchen anders hinzulegen. Und wenn er läutete, ließ sie alles fallen und rannte los. Und wenn sie sich ein bißchen verspätete, schrie der Gepeinigte die Gehetzte an, daß er nicht schreien wolle, aber nicht anders könne. Und sie schrie zurück, daß sie sich nicht verspäten wollte, aber nicht anders konnte. Ihr Leben und sein Sterben wurden zwölf Jahre im Anderthalb-Stunden-Takt von einem Wecker dirigiert: behütet und erpreßt. Und einmal im Jahr trug dann mein Vater das neugeborene Kalb auf den Armen ins Zimmer des Großvaters, legte es, damit er es sieht, vis-a-vis von seinem Bett auf den grünen Samtdiwan mit dem dunkelroten Pfingstrosen-Muster. Das Kalb lag auf den Pfingstrosen am Kopfende und ich setzte mich daneben auf die Pfingstrosen ans Fußende. Der Gepeinigte sah dieses Kalb vielleicht eine ganze halbe Stunde immerfort an, als würde er seine Haare zählen. Mich bemerkte er dabei gar nicht. Und ich sah mehr als zu ihm auf das Kalb und die faustdicken roten Pfingstrosen. Manche waren ganz aufgeblüht, man sah innen drin ihr gelb gekräuseltes Herz. Hie und da traf sich mein Blick mit dem des Großvaters. Es war wie ein gegenseitiger Stich, es gehörte sich nicht, daß einer dem andern mit Blicken so in die Augen bohrt. Ich glaube, es war zu wenig Vertrautheit zwischen uns, um das auszuhalten, um sich durchschauen zu lassen. Der Gepeinigte schaute verzückt. Der Glanz in seinem Blick ging wie ein gräßlicher Hunger auf das Kalb los. So ein rücksichtsloser Hunger, wie man ihn mit dem Mund gar nicht haben kann. Denn beim Mundhunger wird das Essen immer kleiner, das Gegessene verschwindet hinterm Gaumen. Aber beim Augenhunger bleibt das Gegessene groß vor den Augen stehen. Weil nichts, nicht einmal ein Millimeter daran verschwindet, wird es sogar größer, je länger mit dem Augenhunger gegessen wird. Größer, weil aufgebläht von der Betrachtung, monströs, weil sich die Wahrnehmung mit dem Material des Gegenstandes verbandelt, weil der Gegenstand dem Augenhunger immer mehr ausgeliefert ist. Der Gepeinigte buhlte um Teilhabe an diesem neuen, grad geborenen Fleisch des Kalbs. Er war nicht glücklich, sondern das Glück hatte ihn. Das Glück schleifte ihn hinter sich her. Ja, er hatte ein vom Glück zerrissenes Gesicht.
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BEHÜTET und ERPRESST, GLÜCK und ZERRISSEN was treffen sich da für Worte. Was taugt ihr Gegensatz, wenn die Lage, aus der sie entstehen, sie zu Ein-und-Demselben macht. Natürlich hat meine Großmutter nie im Leben den Satz gesagt: "Mir tickt die Wolke durch den Kopf." Aber, wenn ich über sie schreibe, muß sie den Satz sagen. Nicht meinetwegen, ihretwegen muß sie ihn sagen. Ich muß für sie diesen Satz erfinden, damit ihr Wecker im Satz das Ausmaß kriegt, das er in ihrer schwarzrot geflochtenen Ledertasche, ich möchte fast sagen LEBENSTASCHE hatte. Damit dieser Wecker ERPRESST und BEHÜTET, wenns mir gelingt, zärtlich erpreßt und monströs behütet. Und damit die Sätze die Pointen des Lebens einholen, muß die Großmutter HERZTIER sagen und: "Dein Herztier ist eine Maus." Sie muß die eine Großmutter werden, die sich zu Tode singt, weil ihr keine Krankheit beim Sterben helfen kann, und nicht die andere Großmutter, die sich genauso erfunden zu Tode betet.

Literatur ist ein fades Wort. Der Literatur bin ich keinen Satz schuldig, sondern mir selber bin ich Sätze schuldig. Mir selber und mir allein, weil ich das, was mich umgibt, sagen können will. Ein andermal heißt es in einem Text: "Wo ist dieser Ort. Über den Morgen hinaus ist der Tag mir so wenig wie nie. (...) Ich hab noch ein Wort, noch ein kleines, ein zerrenden Sagen in mir. Ich hab noch zu reden fürs Wasser im Blick. Damit ich den Blick noch heben kann, hab ich zu sagen, wer uns die Lippen so schwer, wer uns das Wort so klein macht und wenig wie nie."

Die sogenannten Landsleute aus dem Banat haben mich Nestbeschmutzerin, Hure und Hexe genannt, der Geheimdienst hat mich zum Staatsfeind erklärt. Beide Seiten haben gegen mich gehetzt, Hand in Hand gearbeitet, auch wenn sie es nicht wußten. Sie brauchten keine Absprachen, denn sie hatten die gleichen Gründe: sie haßten das Aufwühlen ihrer geregelten Welt.

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In Bezug auf beiderlei Attacken hab ich mir gedacht: Indem sie sich wehren, geben sie zu, daß sie sich in den Sätzen wiederfinden. Sie toben, weil sie sich nicht so haben wollen, wie sie sind, aber wenn sie nicht so wären, hätten sie die Wut zum Toben nicht.

Den Wörtern im Satz geht es vielleicht wie dem Kalb auf dem Diwan, denn es ist Augenhunger im Spiel beim Schreiben. Der Augenhunger frißt die Wörter, bis sie sich vergrößern. Der Augenhunger und die Vergrößerung sind ein Diktat des Satzes, sonst nichts. Außerhalb davon wehren die Wörter diese Vergrößerung ab, außerhalb wäre sie unangebracht, obszön. Jenseits des Augenhungers sind die Wörter wieder gewöhnlich, sie schrumpfen auf ihren Gebrauchswert zurück, in die Normalität der nichtschreibenden Leute. Zum Glück ist es so, ich brauche, um durch den Tag zu kommen, ständig gewöhnliche Wörter, die bei sich selber stehenbleiben, sonst würde ich die vergrößerten nicht aushalten.

Wenn Scherben funkeln, entsteht ein störrischer Glanz aber nie ein Ganzes. Und wenn wir im Einzelnen hängen bleiben und im Detail denken, besteht alles aus Scherben. Es bricht sich selbst, damit man es genau sehen kann. Und ich breche es noch einmal anders, damit ich darüber schreiben kann. Damit es im Wort annähernd das Ausmaß kriegt, das es den wirklichen Personen, die ich kenne, schuldig ist. Zwischen der Haltung zu ihnen und der Haltung zum Wort entscheidet sich der Satz, bis er gänzlich erfunden das wirklich Gewesene einigermaßen streifen kann.

Wem gehört das Ticken der Wolke im Kopf, wem das Kalb auf dem Diwan, wem die Großmutter, die sich zu Tode singen oder beten muß. Wem also gehört das Bedürfnis, "zu sagen, wer uns die Lippen so schwer macht, das Wort so klein und wenig wie nie." Es gehört keiner Dorfheimat und keiner Staatsheimat. Die im Augenhunger gestapelten Vergrößerungen gehören nur dem Text, der sie gebaut hat, um zu funktionieren. Loyalität dem Wirklichen gegenüber und Versessenheit aufs Flirren gehören im Satz zusammen. Das eine kommt ohne das andere nicht in Gang. Die Tragweite entsteht aus dem Festhalten des Gewesenen, das sich im Satz erst dann gültig behauptet, wenn ihm das Eins-zu-Eins entzogen worden ist, wenn es mit Erfundenem vermischt, eine völlig künstliche, weil mit Tricks gebaute Intimität annimmt und beim Lesen wieder frei gibt.

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Der Augenhunger verpaßt den Wörtern diese Intimität, zieht sie in größtmögliche Nähe, eine die das Gelebte weiter trägt als es beim Erleben war. Nur durchs Erfinden wird die erlebte Wirklichkeit auf ihre Wahrheit zurück gezwungen. Eine Wahrheit durch Nähe, die ich den wirklichen Personen und Gegenständen schuldig bin. Mit Nähe meine ich nicht Einverständnis, sondern die kürzest mögliche Distanz. Seltsam nur, je kürzer die Distanz ist, um so schneller gelangt man durch sie aus der Mitte der Zugehörigkeit an den Rand. In einer überschaubaren Gemeinschaft, sei es ein Dorf oder ein Staat, weil beide sich selbst überwachen, wird man wegen des Augenhungers der Wörter vom Mitglied zum Feind.

Ich jedenfalls bin doppelt an den Rand gelangt, gleichzeitig an den der Dorfheimat und der Staatsheimat. Und das, obwohl der Augenhunger der Wörter nie aus Überheblichkeit kam, sondern aus der genauen Liebe.

Und es war der genauen Liebe geschuldet, wenn ich den Heimatbesitzern sagen mußte: Ihr habt diese Dorfheimat im Nationalsozialismus ins Verbrechen manövriert. Ich hatte mit 16, kaum in der Stadt, Gedichte von Paul Celan gelesen, ich habe sie fast nicht ausgehalten. Hier ging es um mehr als um Gedichte, denn ich mußte mir beim Lesen sagen, daß ich in eine banatschwäbische Welt geboren bin, mit einem Vater, mit Onkeln und Nachbarn, die Hitler dienten, als er Celans Eltern ermorden ließ. Celans Flucht aus Rumänien ist somit auch die Angst vor meinem Vater. Und Celans Selbstmord ist das Ende dieser Flucht. Ich genierte mich vor den Gedichten, wollte mich für diesen Vater entschuldigenden. Nur, wie kann man sich bei Gedichten entschuldigen und wie im Namen einer deutschen Minderheit, wenn diese 1960 und 1970 und die Jahre danach immer noch singt: "Jetzt fahren wir nach Engeland." Wenn dieser Vater sich auf den Hochzeiten in den frühen Morgen säuft, wenn ihm der SS-Soldat auf dem Panzer im Suff durch den Schädel schwimmt: Ein Widergänger mit glasigen Augen und schunkelnden Knien, der am Männertisch einer Hochzeit zwischen Flaschen und Blasmusik noch einmal unterwegs auf Eroberung ist. Einer, der beim Johlen das E-n-g-eland zieht, damit die Takte passen, damit er es auskosten kann. Dieser Männertisch war im Krieg, dachte ich, diese singende Kumpanei hat Paul Celan aus dem Leben gekippt. Sie praktizierte schon zur Hitler-Zeit die Abwechslung zwischen Treibjagd und deutschem Männerchor. Und es war schon damals kein ahnungsloses Liedersingen, bei dem die Hakenkreuze diese Deutschen in einem rumänischen Landstrich eitel machten. Sie hatten sich Hitlers Zunge geliehen, wurden fröhlich und derb. Sie hofften, daß ihre Maisfelder und Maulbeerbäume, Häuser und Straßen, ihr Kirchturm und Bahnhof eines Tages Nazideutschland heißen werden, daß Hitlers Krieg aus dieser deutschen Minderheit die Herren der Gegend machen wird.

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Ich wollte meinen Vater lieben, wenn er nicht sang. Wenn ich mit ihm im LKW stundenlang durch zu große Maisfelder fuhr, wenn wir uns im Brummen des Autos nichts zu sagen hatten, eng nebeneinander saßen und schwiegen, bis er dann wieder einen Nazispruch sagte und schnippisch lachte, im Glauben, es sei ihm in der Einöde zu zweit ein guter Witz gelungen. Er ließ mich am Versuch der Liebe immer noch einmal aufs Neue scheitern, bis er starb. Wenn bei mir ein Gefühl anfing, machte er sich möglichst schnell widerlich, daß die Liebe sich sofort blamierte, wenn sie aufkam. Er war ein Marodeur, der auf dem Rückzug ins Zivile nie mehr heimisch wurde. Dieser Marodeur in seinem Kopf hat mir die Komplizenschaft zwischen Unbelehrbarkeit und Diktatur gezeigt. Und mich gewarnt vor der Diktatur, in der ich selber lebte. Ich sah Eigenschaften an ihm, die sich an sozialistischen Funktionären wiederholten.

Mein Vater ging mit 18 in die SS. Und ich 1971 über den Asphalt der Stadt als halbverstörtes Dorfkind und Gymnasiastin. Ich dachte mir: Jetzt bin ich 18, so alt wie er damals. Auf dem Asphalt standen die Sprüche, die Lüge, der Zwang und die Angst aller vor allen. Jeder in diesem Land wußte, das hier ist seit 30 Jahren eine Diktatur. Weil ich jetzt so alt wie mein Vater damals war, mußte ich mir auf diesem Asphalt sagen: Jetzt wiederholt sich die Jugend meines Vaters an mir, jetzt kommt es ganz allein auf mich an, was ich tu und was nicht. Der Vergleich meines Alters mit seiner Jugend führte zu der Einsicht: Privat anständig bleiben bedeutet öffentlich versagen. Überall hatten schmierige, hirnlose Figuren, Täter und Claqueure das Heft in der Hand. Jeder Aufstieg gründete aufs Drangsalieren anderer: Heucheln, Lauern, Denunziation, Fertigmache. Ich mußte mich damit abfinden, zu nichts imstande zu sein, außer zum Ekel vor den Zuständen und zum Erschrecken vor dem Zerbrechen von Menschen, die ich sehr mochte. Ich hatte keinerlei Möglichkeit, den Machtfiguren etwas anzutun, ich konnte nur nicht aufhören, sie zu beurteilen, meinen Ekel zu begründen. Mir in den Kopf zu sagen: Die bauen diese Staatsheimat auf Menschenverachtung, planen Angst und machen Friedhöfe. Bei denen hat kein Mensch eine Chance, wenn er nicht auf andere losgeht. Alle, die ich schätze, dürfen hier keinen Augenblick so sein, wie ich sie kenne. Den Freunden und mir hat diese Staatsheimat nicht nur die Fabrik und die Straßenbahn gestohlen, nein auch unsere Wohnungen, Tisch und Stuhl, das Kissen im Bett, das Besteck, sogar den Kamm, mit dem wir uns im Haar den Scheitel ziehen. Jedes Maß hat man hier auf den Kopf gestellt. Man hat uns hier zur Anwendung der dünnen Straßen gezwungen, die Wege auf die wir unseren Fuß noch setzen können, sind lediglich unsere eigenen Nerven.

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Todesdrohungen, wie soll es anders sein, machen Todesangst. Die Überforderung der Nerven wurde zu unserer zweiten Natur. Denn man gewöhnt sich daran. Und wenn wieder mal etwas bedrohlich wird, spürt man, je genauer man es weiß, nur noch Watte. Von der pausenlosen Intensität wird man benommen. Übermüdete Wachheit, Raserei ausgestopft mit Watte. Man lernt, daß die Watte nicht still, sondern bloß unerbittlich ist. Die Gemütslage zwischen Räsonieren und Hinnehmen gleicht sich an. Der Gebrauch der Logik nimmt sich den Sinn. Das Einordnen der Dinge wird obsolet. Denn man räumt etwas aus dem Kopf, es ist Watte. Und an die frei gewordene Stelle tut man wieder Watte. Man nimmt ihr von innen ein Stückchen weg, damit sie von außen besser wachsen und eindringen kann. Es klingt seltsam, man ist sich durch Raserei und Gleichmut doppelt vorhanden. Nur ist der eine Zustand, sosehr er sich auch streckt, für den anderen nicht erreichbar. Man ist sich doppelt abhanden gekommen. Dann ist es soweit: Der Wind in einer Akazie, das Quietschen des Fahrstuhls, das Anknipsen eines Lichtschalters wird zum Geräusch der Gefahr. Aber auch die Lautlosigkeit mit der im Weg die Pfütze glänzt und auf dem Tisch die Suppe im Teller.
Ich hatte keine Angst mehr, ich gehörte ihr. Das ist ein schlimmeres Stadium, denn die erste Station hinter der Angst ist wahrscheinlich die letzte, bevor man den Verstand verliert. Der Augenhunger meines Großvaters wurde auf dem Asphalt mein Alltag. Die Dinge luden sich auf, ich mußte sie genau ansehen, wissend daß ihr Augenhunger sie so unberechenbar vergrößert, damit ich nicht merke, wie er mich dabei frißt. Ich funktionierte von außen, ging drei Jahre morgens um 5 Uhr in die Fabrik. Mir tickte der Wecker der Fabrik im Kopf. Ich gestattete mir keine Minute Verspätung. Eingeübter Morgentakt der Füße, den Kopf hob ich und sah zwischen Bäumen in den Himmel. Weil die Wörter einen Augenhunger haben, dachte ich: Auf dünnen Straßen muß man nicht auf seine Füße achten, sondern auf die Nerven.

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Wenn ich darüber schreibe, ziehen sich die Weckerjahre meiner Großmutter über meine drei Fabrikjahre. Dann steht im Satz:

Mir tickt die Wolke durch den Kopf
und die Stadt sitzt krötenstill morgens
vor meinem Mantelknopf.

Die Anwendung der dünnen Straßen läuft auch durchs Leben meiner Mutter. Mit 17 wurde sie zu fünf Jahren Zwangsarbeit deportiert ins Lager in die heutige Ukraine. Dort grassierte der wilde Hunger, einer der sich von unserem täglich zahmen, grundlegend unterscheidet. Und der wilde Frost und das militärische Kommando. Meine Mutter hat Internierte wie sie verhungern, erfrieren und an der Zwangsarbeit sterben sehen. Drei Jahre nach der Heimkehr aus dem Lager kam ich zur Welt, die Deportation steckte noch in ihr und streute sich in meine Kindheit. Wenn ich essen sollte, sprach sie vom grausigen Hunger in Rußland, bis mir kein Essen mehr schmeckte. Wenn sie mich kämmte, redete sie vom Kahlscheren im Lager, bis ich kein Recht mehr auf meine Haare hatte. Wenn ich abends schlafen sollte, erwähnte sie den gefrorenen Mond über der Steppe, bis mich keine Decke und kein Ofen mehr wärmten. Ich verstand die Inhalte nicht, aber der Schrecken übertrug sich umso mehr. Schrecken ohne Inhalt alarmiert ein Kind unverantwortlich. Sie sah doch, daß ich nicht verstand, worum es geht. Es reichte ihr, daß sie mir weh tun konnte. Hätte sie doch gewartet, denn mit 17, also in ihrem Alter von damals, hätte ich begriffen, der Schrecken wäre nicht mehr ohne Inhalt dahergekommen. Aber da weigerte sie sich, Auskunft zu geben. Sie erwähnte das Lager nicht mehr, behielt ihre dünnen Straßen für sich. Seit ich meine eigenen dünnen Straßen habe, verausgabt sie ihre Beschädigung nur noch in Handgriffen, hoffend daß ich diese nicht durchschaue.

Die Anwendung der dünnen Straßen kenne ich nur von einem Mann in ihrem Alter, den sie nicht kennt, der deportiert war wie sie. Ich nenne ihn Franz. Ich bin den dünnen Straßen nach mit Franz in die Ukraine gereist, ins DONBASS-Gebiet. Die Städte der Arbeitslager heißen Dnjepropetrovsk, Gorlovka, Donezk, Enakieva, Krivoi-Rog. Da, wo in jedem Park ein Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg steht, in jedem Zentrum ein Lenin, hoch wie ein Turm, von der Kohle und Metallurgie nachtschwarz in der Sonne, knüpfen sich, wenns abends dunkel wird, die Lichtfäden der Sterne nicht wie gewohnt zum kleinen und zum großen Wagen, sondern zum kleinen und zum großen Panzer. Und wenn man dies Bild abwehrt, zum kleinen und zum großen Kühlturm. Überall in den Gärten und als Sträuße auf den Märkten sind Pfingstrosen. Die Pfingstrose ist die Blume der Ukraine. Zwischen allen Lenins und Panzern wird sie einem zur Sowjetblume, eine Pflanze im Siegeswahn. Als wäre der Krieg erst gestern gewesen, oder noch gar nicht vorbei, blüht sie hier zwischen jahrzehntelang mit frischer Ölfarbe gestrichenem Kriegsgerät. Alles Eisen, vom Wasserhahn in den Hotels bis zur Silhouette der Fabriken ist in der Ukraine kaputt, verrostetes Gerippe. Aber das Kriegsgerät ist auf Hochglanz poliert. Man schaut es an und es glänzt die Angst vor der Zivilität. Der aus dem Sowjetimperium entlassene Staat ist 60 Jahre nach dem Krieg immer noch ein Marodeur des Sieges. Tragisch an diesem so notwendigen Sieg über Hitler ist, daß man aus diesem Sieg nichts lernen durfte. Er durfte sich für den Einzelnen nicht lohnen, als individuelles Leben und privates Glück. Daß man außen siegen und innen für alle Tage danach zerbrochen sein kann, durfte keiner hier sagen. Statt seine Sieger danach zu fragen, erzwang der Staat die hysterisch verordnete, überwachte Siegesbeschwörung. Er versteckte dahinter die Repression. Wer sich als Marodeur nicht genügte, sich ein Stück zivile Würde in sein Leben wünschte, für den gab es den Gulag.

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Die Pfingstrose, eine alte Bauernblume mit diskretem Duft. Seinerzeit auf dem grünen Diwan sah ich sie an, um einen Halt gegen den Augenhunger zu finden. In der Ukraine lauerte die Pfingstrose selbst, hauchrosa oder geronnen rot fing sie an, dem Kriegsgerät zu gleichen, den Handgranaten. Nie hätte ich diese Assoziation für möglich gehalten: Parfüm und Dynamit. Als ich mit Franz in der Ukraine war, über die Anwendung der dünnen Straße sprach, habe ich ihm von der Pfingstrose nichts gesagt. Ich war froh, daß sie ihn schonte. Sie fiel ihm nicht auf, war aber in allem drin, was er mir erzählte: 1945 ist Franz 17 Jahre alt. Eine bürgerliche Familie, der Vater Zeichenlehrer, der Tuschfedern sammelt, ein Federzimmer hat. Eine Mutter die Gitarre spielt, elegante Ballkleider trägt, Mokkatassen mit Goldrändern sammelt. Es gibt keinen Koffer im Haus. Als Franz für die Deportation packen muß, montiert er das Grammophon aus der samtverkleideten Kiste und stopft das Loch, wo die Kurbel war, mit einem Korken zu. Er fährt mit dem Grammophonkistchen ins Lager. Im Stadtmantel des Großvaters, mit den Ledergamaschen des Nachbars, geliehen, damit sie an den Waden warm halten. Mit einem glänzend und matt schachbrettgewürfelten bordeauroten Seidenschal, den er bald für drei Scheiben Brot verscherbelt. Alles im Grammophonkistchen und was er am Körper trägt, ist, da wo er ankommt, improvisierte, lächerliche Verkleidung. Wie sollte man sich zu Hause beim Packen fünf Jahre Lager vorstellen. Wie im panischen, letzten Moment der Kleinstadt-Normalität das Desaster vorbereiten. Man hätte packen können, wie man will, kein Mitbringsel wäre für den Nullpunkt der Existenz tauglich gewesen. Franz nennt den chronischen Hunger heute noch zärtlich HUNGERENGEL. Und die beste Kohleschaufel wegen der geschwungenen und spitz zulaufenden Form HERZSCHAUFEL. Die Öfen und Kühltürme, die in fünf Jahren fürs Auge zum Halt werden mußten mit weißen Dunstwolken und gelbem Glutspektakel nennt er SKYLINE, vergleicht die zum Heimatgefühl umgestülpte Fremdheit und Verwahrlosung mit der Kindesheimat, der Silhouette der Karpaten. Der uhrgenaue Takt von Beladen und Entladen der Öfen, der Weißdunst und das glutgelbe Leuchten hatten in ihrer pünktlichen Wiederkehr die Zudringlichkeit des Weckers in der Tasche meiner Großmutter. Die Farben am Himmel erpreßten und behüteten. Zwischen ERPRESSEN und BEHÜTEN ist wieder mal der Gegensatz gelöscht.
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Franz arbeitete in diesem Kokswerk unter den Öfen im Keller bei der heißen und kalten Schlacke. Er spricht vom Vanille- und Bananenduft des Teers, von Kopfkissenbezügen, die er nach der Schicht auf dem Weg zwischen Fabrik und Schlafbaracke mit jungem Meldekraut vollpflückte. Gekocht, mit viel Salz bestreut, wurde das Unkraut gegessen. Salz war schwer zu beschaffen, ein Vermögen wert. Franz sagt, Salz betrügt den Hunger genauso wie Zucker. Als das Unterhemd zerschlissen war, hat Franz sich daraus Klopapier geschnitten. Als die Jacke zerschlissen war, hat er sich daraus eine Schirmmütze genäht. Pedant zugeschnitten, akkurat mit Karton verstärkt. Ein Musterstück an Handarbeit. Eine Mütze als Selbstvergewisserung und Würde, ein kleines Wunder, das ihn stolz machte. Es war der Beweis, daß in ihm noch eine Spur von früher existiert, daß er die Zivilisation nicht gänzlich vergessen hat. Auch die Deportation von Franz nenne ich beim Schreiben "die Anwendung der dünnen Straßen." Die Anwendung ist ein Gebrauch gegen den Willen und ohne Wahl. Im Satz sollen die Straßen nicht schmal sein, nicht ungewiß sondern DÜNN, damit sie brechen, ohne die entsprechenden Wörter zu bemühen. Nicht Halbverhungerter soll Franz heißen im Satz sondern LÖFFELBIEGER. Wo sich die Realität so extrem aufreißt, kann sie nur getroffen werden durch Überrumpelung, durch ein Wort, das sie nicht erwartet: Der Löffelbieger sagt in Weiß gekleidet liegt der Schnee so nackt die Anwendung der dünnen Straßen das bißchen Krümmung in den Mokkatassen das Grammophonkistchen die Herzschaufel kannst du doch wissen alles Material wird später mal dein rechteckiges Kissen ich aber war nur für eine kurze Reise kostümiert ein junger Wind oder ein alter Hunger hatte mir das Mützchen destabilisiert es kam der König mit dem Zuckerstreuer er schrie und schwieg es kam ein neuer König mit dem Zittersieg (Ungekürzte Eröffnungsrede, dessen gekürzte Fassung im ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 26./27.6.2004 erschien.)