Peter Bäldle über die neue Liebe der Mode zu den elaborierten Details

Ist es Zufall? In der Mode findet derzeit ein grundlegender Paradigmenwechsel statt - und eine viel beachtete Ausstellung im Museum of Modern Art im New Yorker Stadtteil Queens liefert die Bilder dazu. Denn zum ersten Mal überhaupt (und noch bis 28. Juni) werden dort unter dem Titel "Fashioning Fiction in Photography since 1990" nur Modefotografien gezeigt. Nan Goldin, Juergen Teller und Ellen Von Unwerth, um nur einige zu nennen, haben sie in den Neunzigerjahren aufgenommen.


Rochas/Olivier Theyskens

Obwohl die jüngsten Aufnahmen erst vor zwei Jahren entstanden sind, fällt doch auf, wie sehr sich der Standpunkt der Mode in der Zwischenzeit verändert hat. Damals wollten die Designer um jeden Preis den Elfenbeinturm ihrer Salons verlassen, um mit ihren Entwürfen die Straße zu erobern. Klassische Schönheit war kein Thema mehr, alltägliches Aussehen war angesagt. Auch in der Fotografie ersetzte der Schnappschuss das inszenierte Bild.
Doch damit scheint nun endgültig Schluss zu sein. Nicht länger ist es Streetwear, Hightech oder Sport-Fashion, was die Kreateure interessiert, sondern das Können in den Ateliers der Schneiderkunst. Dabei sind es vor allem junge Designer, die sich vom Raffinement der Couture wieder faszinieren lassen, auch wenn, aus Preisgründen, Exklusivität und der Zusatz "Haute" nicht zur Debatte stehen.


Rochas/Olivier Theyskens

Unangefochtener Star dieser Entwicklung ist der Belgier Olivier Theyskens, der seit einem Jahr für das Pariser Modehaus Rochas entwirft. "The Prince of Dark", wie ihn die englische Presse wegen seiner dunkelhaarigen, romantischen Schönheit nennt, aber auch wegen seiner Vorliebe für die düsteren Gespenstergeschichten des Gothic-Kults rund um den Grafen Dracula, präsentierte 1998 eine erste Kollektion unter eigenem Namen. Zum Shootingstar der Branche wurde er, als im selben Jahr Madonna eines seiner Krinolinenabendkleider zur Oscar-Verleihung trug. Einmal galt er als der neue Claude Montana, weil seine machtvollen Lederblousons jenen des Kultdesigners aus den Achtzigerjahren ähnelten. Einmal wurde er als Nachfolger Alexander McQueens bei Givenchy gehandelt.


Olivier Theyskens

Doch dann war plötzlich Schluss mit den Gerüchten und seiner Kollektion. Olivier Theyskens hatte sich mit seinem Geldgeber zerstritten. Eine kreative Zwangspause war die Folge. Im Frühjahr 2003 kehrte er allerdings als Artistic Director des traditionsreichen, aber kleinen, französischen Modehauses Rochas auf den Laufsteg zurück mit Entwürfen, die durch Delikatesse und Femininität überraschten. So schön, dass sie auch dem 1955 verstorbenen Marcel Rochas gefallen hätten.


Martin Grant/Sommer 04

"Fragilität, Zerbrechlichkeit, das verkörpert für mich die Frau bei Rochas. Geprägt von jenem Augenblick, wenn die Kindheit endet und das Erwachsensein beginnt." Fragil sind auch Olivier Theyskens Farben und Stoffe. Taft, Duchesse und steife Seiden in Elfenbein, Champagner und Perlmutt-Rosé überzieht er mit schwarzer Chantilly-Spitze, dem Erkennungszeichen des Hauses. Mithilfe breiter Samtbänder verlegt er die Taille an Bolerojacken nach oben und markiert mit ihnen den Volantsaum seiner Röcke. Cocktailkleider, die zuweilen an Glockenblumen erinnern, verblüffen durch kunstvolle Drapierungen. Coole Akzente setzen ellbogenlange Diven-Handschuhe in giftigen Farben und durchsichtige Pumps.


Martin Grant/Sommer 04

"Ich mag es, wenn Mode die Kultur unserer Mütter berührt", meint der 27-jährige, scheue, junge Mann dazu, "und Rochas tut das. Für mich ist der Name der Inbegriff alles Pariserischen." Er hat Recht, wenn man an die immer währende Liebesgeschichte zwischen Marcel Rochas und seiner Frau Hélène denkt, der er 1945 das Parfum "Femme" im spitzenüberzogenen Karton widmete.


Lars Nilsson/Nina Ricci

Aber auch sonst gehörte der Couturier zu den innovativsten seiner Zunft. Er soll als Erster breit gepolsterte Schultern in den Vierzigerjahren gezeigt haben und nahm später Christian Diors "New Look" vorweg mit langen, weiten Röcken und Wespentaillen an Corsagen. Hollywoodstars zählten zu seinen Kundinnen: Carole Lombard, Joan Crawford und Mae West. "Müsste ich mein Arbeiten bei Rochas beschreiben", sagt Olivier Theyskens, "würde ich ,Suche nach Schönheit' dazu sagen."


Lars Nilsson/Nina Ricci

Mit dieser Sehnsucht steht der junge Mann aus Brüssel nicht allein da. Auch Alber Elbaz, der seit 2001 für Lanvin kreiert, und Lars Nilsson, der diesen Sommer sein Debüt bei Nina Ricci gibt, teilen diese Einstellung. Beide bestechen durch eine couturenahe Verarbeitung bei ihren Entwürfen und raffinierte Details, denen man anstelle der großen Laufstege bei den Pariser Designer-Präsentationen eher die Intimität der einstigen Salon-Defilees wünschen würde.


Lars Nilsson

Dies hat mit aller Konsequenz Martin Grant, Newcomer und Geheimtipp aus Melbourne in Australien, ganz richtig erkannt. Um seine eleganten Mäntel mit ihren Cape-Rücken zu präsentieren und die Flügelärmel an jenem kirschroten Doubleface-Kleid, das vor einiger Zeit Cate Blanchett trug, lud er ein handverlesenes Publikum auf die goldenen Stühlchen der schönen Bibliothek des Historikers Adolphe Thiers, des ersten Präsidenten der französischen Republik aus Marcel Prousts Kindertagen. Um mit ihm auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu gehen? (DERSTANDARD/rondo/04/06/04)


Martin Grant
Fotos: Reuters/Philippe Wojazer (2), EPA/Alfred (1), Martin Grant, Nina Ricci