Im Bild die Markthallen in Riga (ehemalige Zeppelinhallen)

Dreimal so groß wie die neuseeländischen sind sie, die Kiwis, die auf dem Zentralmarkt von Riga zu haben sind, während nebenan ehemalige Offiziere ihre Armseligkeiten wie Einkaufssackerln mit dem Aufdruck westlicher Marken feilbieten.

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Unter den drei schönen baltischen Hauptstädten ist mir Riga die liebste. Das ist eine persönliche Vorliebe, die damit zu tun hat, dass sie nicht nur eine Altstadt mit gotischen Kirchen, großzügigen Plätzen und einem Gewirr von Gassen hat, in denen viele Häuser von dem Wohlstand frühbürgerlicher Gilden zeugen, die sich wider den feudalen Druck des Deutschen Ordens selbstbewusst zu behaupten suchten. Nein, Riga ist im Unterschied zu Vilnius und Tallinn eine Großstadt, deren Reize sich gerade auch jenseits des engen Kreises der Fußgänger- und Denkmalszone entfalten.

Hinter dem Hauptbahnhof liegt der Zentralmarkt, mit seinen fünf riesigen Hallen, die einst als Hangars für Zeppeline dienten und 1920 abgetragen und hierher verfrachtet wurden. Wer den Wiener Naschmarkt liebt, der wird von diesem größten Markt Europas vielleicht fasziniert und abgestoßen zugleich sein.

Rund 100.000 Menschen kaufen täglich hier ein, in den Hallen oder bei den schier unzähligen Marktständen rund um sie. Alles Schicke fehlt vollständig, es ist schmutzig, laut, und der ungeheure Reichtum des Marktes besteht aus tausenderlei Armseligkeiten. Da stehen dicht aneinander gereiht lettische Bäuerinnen, die nichts anzubieten haben, als was sie in einer alten Tasche mit sich führen, verschrumpelte Karotten, ein paar Sträuße mit Blumen, einen Bund Gewürze.

Alles von Armani bis Billa

Russische Pensionisten, die im Berufsleben einmal Offiziere waren, halten an der stramm ausgestreckten Hand Plastiksackerln feil, und von Armani bis Billa haben sie alles in einem Angebot, für das es bei uns keine Käufer gäbe, die hier aber ihren Absatz finden, wiewohl sie aberwitzig teuer sind. Mittendrin im Menschengewirr stehen riesige Lastwägen, die schon zu staunen Anlass geben, weil ihre verrostete Karosserie nicht längst auseinander gebrochen ist, aber diese Ungetüme fahren alle paar Tage über Weißrussland und die Ukraine nach Georgien oder Armenien zurück, um wieder angefüllt und neuerlich auf die Reise ins reiche Riga geschickt zu werden: eine Strecke, weiter als vom hohen Norden Europas bis nach Sizilien. Kiwis aus Georgien, dreimal so groß wie die neuseeländischen, warzig wie bei uns nur biologische Erdäpfel, werden direkt von der Ladefläche herab verkauft; orientalische Gewürze, Riesensäcke mit Pistazien und mir unbekannten Südfrüchten wechseln nach lebhaften, zumeist in mehreren Sprachen geführten Verhandlungen den Besitzer.

Auch der lettische Nationalstaat hat nach der Unabhängigkeit lange nicht gewusst, wie er mit seiner rund dreißig Prozent zählenden russischen Minderheit umgehen solle. Zumindest in Riga selbst scheint sich das Zusammenleben mit den einstigen Okkupatoren entkrampft zu haben, ja der eigentümliche Reiz dieser Stadt erwächst unverkennbar und unüberhörbar auch aus der im Alltag wie selbstverständlich gelebten Multinationalität.

Betörende Düfte

Da mag jedes zweite Haus die lettische Fahne ausgehängt haben, als wäre das ganze Jahr über Nationalfeiertag - in den Straßen und Kaufhäusern, in den Cafés und Restaurants hört man vom Personal wie von den Besuchern gleich häufig russisch wie lettisch. Wenn man den Markt mit seinem betörenden Duft, in den sich zuweilen scharf jener aus der großen Fischhalle mengt, verlassen hat, fragt man sich bang, wie es um die Versorgung Rigas stehen wird, sobald mit dem Beitritt zur Europäischen Union das riesige Einzugsgebiet, das bis in den Kaukasus reicht, durch Handelszölle und Grenzformalitäten erschwert und in bestimmten Bereichen wohl auch unterbunden werden wird.

Wer die historische Altstadt in größerem Radius umrundet und staunend an gezählten restaurierten und zahllosen baufälligen Prachtbauten des Jugendstils entlangzieht, dem kann nicht entgehen, in welchem Prozess der ökonomischen Transformation sich Lettland befindet. Auf den Boulevards stechen die riesigen Bauten von Eriksson, die meterhohen Werbeflächen skandinavischer und englischer Firmen ins Auge.

Das Hotel Konventa Seta, im Herzen der Altstadt, inmitten eines einstigen Klosterkomplexes gelegen, ist ein freundliches Hotel der oberen Mittelklasse. Beim Frühstück ist der Salon in dieser Karwoche voll von lauter Geschäftsleuten, wie man sie mit ihren farbenfrohen Krawatten und dunklen Anzügen in London tagsüber durch die City hasten und abends in den Vorortzügen entkräftet vor sich hindämmern sieht. Diese Leute, Schweden, Dänen und Engländer, sind nicht auf Urlaub hier, sie machen Geschäfte, und sie gehen es um neun Uhr diszipliniert an, indem sie, während sie Karaffen von Orangensaft leeren, aus ihren Handys Anweisungen von der Zentrale in Stockholm oder neueste Börsenberichte aus London erhalten.

Betritt man hingegen um 23 Uhr die Lounge des Hotels, ist sie bereits fest im Besitz von Kampftrinkern, als die die Businessmen nach getaner Arbeit kenntlich werden. Die meisten von ihnen haben im "Dickens", einem originalgetreuen englischen Pub, dessen Dekor aus Devotionalien des Fußballklubs Newcastle United besteht, ihr Steak gegessen und dazu ein paar Gläser zu viel aus dem reichen Sortiment an irischem Bier oder schottischem Whisky getrunken.

Jetzt sind sie in ein Stadium der Enthemmung übergegangen, ohne das sie vermutlich ihr Tageswerk nicht ohne tiefe Depression überstehen würden. Ihre Kleidung ist längst derangiert, der Chef einer Delegation kommt aus der Toilette zurück, indem er sich erst auf dem Weg zu seinen Kumpeln das Hosentürl zuknöpft, und am nächsten Tisch recken sich die gesellschaftlichen Führungskräfte empor, um ein Lied anzustimmen, das sonst von Hooligans auf dem Fußballplatz gegrölt zu werden pflegt.

Fast jeder dieser Gruppen ist eine Dolmetscherin oder Hostess zugeteilt, zu deren dienstlichen Obliegenheiten es gehört, den wichtigen Partnern ihrer Firma auch lange nach offizieller Schließung der Bar noch Ladungen Alkoholika aller Art zu organisieren. Mit einer von ihnen, die frühmorgens schon wieder adrett antreten, um ihre verkaterten Klienten abzuholen, kamen wir nach ein paar Tagen ins Gespräch, und wir fragten sie, was sie den morgens so zugeknöpften und abends so brüllend aufgeknöpften Leuten vermitteln müsse. "Oh", sagte Inese da in einem Englisch, das besser war als meines: "all the day over I have to tell them, that everything in Latvia is super or only a little bit less than super. And in the evening I tell them that it is really super to have them here." (DER STANDARD, Printausgabe, 3.5.2004)