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Kirstin Breitenfellner:
Der Liebhaberreflex
€ 19,-/231 Seiten. Skarabaeus, Innsbruck 2004.

Foto: Archiv

Dieser Roman beginnt mit einem Rückzug und endet mit einem Aufbruch. Seine Heldin heißt Agnes Poigenfürst, und ob sie diesen, wie sie meint, altmodischen Namen als Tribut an den bekannten Wiener Chirurgen trägt oder, um ihrem alles zersägenden Blick Ehre zu machen, bleibt dahingestellt. Der eigenen Innerlichkeit gegenüber verhält sie sich bemerkenswert undramatisch: "Eigentlich habe ich noch nichts wirklich Schlimmes erlebt." Das Übliche lässt sie nicht gelten, ein paar gescheiterte Beziehungen hat schließlich mit Anfang dreißig jeder hinter sich. Dennoch fühlt sie sich abgekämpft, desillusioniert, entmutigt. Also beschließt Agnes (sie ist jemand, der so etwas beschließt), sich keine Hoffnungen mehr zu machen, sich quasi aus dem eigenen Leben zu verabschieden.

Schuld daran ist natürlich ein Mann: der Prototyp des Liebhabers. Ihm, einem gewissen Thomas, Chef jener Theaterzeitung, bei der sie als Korrektorin arbeitet, verdankt die Erzählerin eine wunderbare Liebesgeschichte und mit einigen weniger angenehmen Erfahrungen auch das Material für die Entwicklung ihrer mit ironischer Sympathie getränkten Typologie des Liebhabers: "Der Liebhaber ist ein Künstler, ein Künstler, der keine Werke hervorbringt, ein Lebenskünstler. Er beherrscht die große Kunst, das Leben zu genießen, ohne mit dem Schmerz in Berührung zu kommen. (. . .) Das Geheimnis des Liebhabers besteht darin, dass er sich das wünscht, wovon er weiß, dass er es auch ganz sicher bekommen kann." In der Literatur würde er immer falsch dargestellt: als Frauenheld. Doch im Gegensatz zu diesem sei der Liebhaber kein Egoist, sondern denke "ausschließlich an die Lust der Frau". Der Liebhaberreflex hat etwas mit seinen Augen zu tun, die die Geliebte in das günstigste aller Lichter setzten.

Man sieht: Agnes ist weder verbittert noch ungerecht. Analysen sind ihre Art der Machtausübung und ihre Stärke. Gerade weil sie auch sich selbst analysiert, den Wunsch, etwas Besonderes zu sein, und die Erkenntnis der unentrinnbaren Gewöhnlichkeit: "Ich war eine Geliebte, wie sie in jedem Trivialroman steht." Dass Kirstin Breitenfellners Debüt kein Trivialroman ist, verdankt es ebenjener spröden Nüchternheit, mit der es die Nähe zur Trivialität auslotet, sowie der Intelligenz und Selbstironie der Erzählerin, die der Autorin nahe zu stehen scheint. Agnes ist für jede Selbsterfahrung ungeeignet, die sich der rationalen Kontrolle entzieht, die Meditationsversuche, die sie sich verordnet, liefern sie nur dem banalen Chaos ihres Gedankenstrudels aus. Mag sein, dass Der Liebhaberreflex auch ein Schlüsselroman ist, glücklicherweise verfügt aber kaum ein Leser über den Schlüssel und wird so nicht vom Wesentlichen abgelenkt.

Die hier abgebildete gemütliche Stadt lässt sich ohne weiteres als Wien enttarnen, obwohl ihre Bewohner, vor allem Frau Poigenfürst, ein sehr deutsches Deutsch sprechen. Neben dem (naturgemäß verheirateten) Thomas gibt es den Ehemann Poigenfürst, einen Anwalt, der Agnes ebenfalls abhanden kommt, und den Künstler Tibor, der ihren Kinderwunsch abschlägig bescheidet und deshalb disqualifiziert wird. Kontur gewinnen auch Agnes' grundverschiedene Schwestern, vor allem aber beeindruckt Angela, die ferne Freundin und rettungslose Selbstmörderin.

In die Charakteristik der Figuren fließt viel aphoristisch zugefeiltes Räsonnement ein, Philosophisches ebenso wie die Erörterung von Frauenproblemen, von der Plage des Alterns bis zur Lust des Einkaufens – und zur Tücke der Umkleidekabinen: "Das Kabinenlicht ist die Rache der Händler. Sie wissen, dass der Kunde in jedem Fall kauft, wenn er einmal bis hierher gelangt ist und das Teil passt."

Geschichten und Themen scheinen kunterbunt gemischt. Abgesehen von einem kleinen Amerika-Reisebericht werden Zeitungslektüren referiert, stehen Rundmailbonmots und allerlei Lebensweisheiten auf dem Prüfstein: Breitenfellners Erstling lässt sich auch als das ernste Pendant zu Thomas Glavinic' Wie man leben soll lesen. Die disparate Form des Romans wäre als Mangel auslegbar, entspräche sie nicht genau dem Blick der Protagonistin auf die Welt. Im Verdacht des Trivialen steht allein der Schluss: Nach so viel gesunder Skepsis kommt das Happyend doch etwas unmotiviert. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 30.4./1./2.5.2004)