Fast erledigt sind die Debatten über die ungerechte Teilung Tirols schon seit Jahren. Rückgängig gemacht wird in nächster Zukunft die Trennung der Slowakei von Tschechien. Und jenen Betrieben in Südösterreich, die durch die Weltkriege ihre Märkte verloren haben, stehen sie wieder offen. Eine zu optimistische Sicht? Ja, sicher. Aber die Richtung stimmt.

Skeptiker (oder doch Kleinbürger?) aller Bildungsschichten sehen das nicht so: Sie waren immer für den Sturz des Kommunismus. Selbstverständlich. Insgeheim aber hätten sie es gerne gesehen, wenn der Eiserne Vorhang geblieben wäre: kein Menschenhandel, keine Flüchtlinge, keine Arbeitsmigration. Immer wieder erlebt man Gespräche dieses Inhalts.

Nicht ganz genau so, aber in etwa. Für die Gegner der Osterweiterung war schon die Ostöffnung ein Ärgernis. Nehmen, aber nichts geben. In den Osten investieren, aber nur auf einer Einbahnstraße. So würde es passen.

Dass das endgültige Inkrafttreten der EU-Erweiterung von einer Totalliberalisierung ohnehin weit entfernt ist, gilt vielen Österreichern als zu schwaches Argument. Offiziell kein Euro bei den Nachbarn, die Schengen-Grenze noch lang nicht eliminiert, die Pässe jederzeit vorzuweisen: Die Ausweitung des EU-Territoriums ist in vielem ein schöner Schein. Jedenfalls keine Erleichterung im Alltag.

Die eigentliche Kraft dieses Datums wächst aus der historischen Veränderung am 1. Mai 2004. Die meisten der ehemals kommunistischen Satellitenstaaten treten dem Westen bei - bei den wichtigsten von ihnen als logische Folge ihrer Nato-Mitgliedschaft. Wodurch in Zentraleuropa eine geopolitisch interessante Schichtung entsteht. Polen führt die stärkste Gruppe an, den ost-/mitteleuropäischen Gürtel. Österreich bildet mit der Schweiz eine neutrale Achse - mit dem Vorteil der EU-Mitgliedschaft. Schlusslicht sind Kroatien, Bulgarien und Rumänien, deren Türen nach Europa noch lange versperrt bleiben. Wahrscheinlich bis nach 2010.

Kritiker der Osterweiterung vergessen vor lauter Egoismus, dass die letzten fünfzehn Jahre für diese Gesellschaften gleichbedeutend sind mit einer österreichischen Errungenschaft: der Wiederherstellung der Souveränität in den Fünfzigerjahren. Die Nachbarn haben zuerst das kommunistische Joch abgeschüttelt und sich dann durch westliche Bündnisse abgesichert. Sie haben damit auch unser Territorium sicherer gemacht. Und die Neutralität natürlich weniger plausibel.

Aber wer immer reicher wird, ist blind und taub. Wird unempfänglich für faire Kooperation.

Schwerhörig auch für neue Gefahren. Der tschechische Schriftsteller Ludvik Vaculik hat beim Prague Writers’ Festival in Vienna Kritik am "herrschenden Konsumismus" eingefordert und sich damit auf eine Argumentationslinie begeben, die auch der Wojtyla- Papst, historischer "Verursacher" dieses Friedensprojekts der Erweiterung, verficht. Beides, der Despotismus, aber auch der Konsumismus, drängten die Gesellschaften letztlich auf die Verliererstraße. Vaculik: "Nach dem Sieg beginnt eine neue Schlacht." Widerstand sei geboten.

Umso mehr, als Geldgier und Privilegien auch die EU umschatten. Wenn sich Parlamentarier bei Billigflügen über die Diätenordnung das Zehnfache des Flugpreises einstreifen, dann ist Feuer am Dach Europas. Und als Reaktion darauf wahrscheinlich, dass jemand wie Hans-Peter Martin einen Sitz erobert, den ihm die etablierten Parteien vorenthalten wollen.

Umso mehr, als das Gezänk um eine Europäische Verfassung engstirnige nationale Interessen spiegelt. Wird dieses erweiterte Europa überhaupt noch zu tragfähigen Entscheidungen finden? Wird sich möglicherweise sogar eine Scheidung ereignen, nämlich der Austritt Großbritanniens?

Schon die Europawahlen im Juni werden zeigen, welchen Rückhalt Brüssel überhaupt hat. Sollte die Wahlbeteiligung unter vierzig Prozent rutschen, dann hätte das Parlament ein gewaltiges Problem. (DER STANDARD, Printausgabe, 30.4./1./2.5.2004)