Wien - Die sympathische Utopie vom musikalischen Universalgelehrtentum gerät im Moment ihrer Umsetzung zumeist zum Beleg für die Unmöglichkeit, diese Utopie im real existierenden Musikbetrieb (unter Umgehung von Oberflächlichkeit) zu realisieren. Ein mit den Jahrhunderten gewachsener Anspruch auf Perfektion hat wohl spezialistenzeugend die Einheit von Komponist/Interpret/Dirigent unumkehrbar gesprengt und neue Berufszweige entstehen lassen.

Auch bei Dirigent und Pianist Daniel Barenboim hatte man mitunter das Gefühl, es würde bei ihm angebracht sein, sich im Sinne der Arbeitsteilung für eine der beiden Rollen zu entscheiden. Als administrativ belasteter Leiter der Deutschen Oper Berlin ist er noch eine Weile auch dem Chicago Symphony Orchestra (bis 2006) chefmäßig verpflichtet. Das bindet nicht nur pianistische Kräfte.

Zudem ist er ziemlich unbeirrt und unermüdlich unterwegs, im Nahostkonflikt toleranzstiftend einzugreifen. Er inszeniert Versöhnung, indem er in Weimar junge Israeli und Palästinenser zu einem Orchester zusammenführt, und in Ramallah gibt der israelische Staatsbürger ein Konzert.

Nun bewegt sich Barenboim zwar auch in Qualitätshöhen, in denen die Anspruchsluft sehr dünn ist. Aber für Exklavierwunderkinder gelten mitunter eigene Maßstäbe - da ist man vor Musikalität und Überraschungen nicht gefeit. Und zweifellos ist der (Über-) blick des Dirigenten Barenboim für den Pianisten Barenboim ein immenser Vorteil - was dramaturgische Hellsichtigkeit anbelangt. Damit ist es keinesfalls nur eine Gefälligkeit, wenn der Wiener Musikverein einige leere goldene Saalplätze riskiert, weil er Barenboims Wunsch nachgekommen ist, ihn in einer unüblich kurzen Zeit (an acht Abenden) alle Beethoven-Sonaten präsentieren zu lassen.

Nach drei heftig akklamierten "Sessions" lässt sich sagen: Er ist gut in Form und ein Überraschungsromantiker. Jede Note atmet Individualität und einen Gestaltungswillen, der im 19. Jahrhundert beheimatet ist. Sein Spiel pendelt zwischen poetisch und robust, ist mit einer tiefen Philosophie der Kontraste ausgestattet, agogisch maßvoll großzügig und führt zu permanenter Überraschungsspannung.

Das Adagio sostenuto der Hammerklaviersonate wird zu eine sensiblen Meditation, der einzelne, zarte Ton kann etwas Narkotisches erlangen. Logisch, dass Barenboim zu dessen voller Entfaltung auf langsame Tempi setzt. Im Schlusssatz lässt er sich andererseits auf die irrwitzige Notenarchitektur risikoreich ein. Es sind dann Töne zu hören, aus deren Furor die Moderne zu erwachen scheint.

Das Schöne: Selten wird es unverbindlich wie im Prestissimo von op. 2/1 oder op. 13; nur selten gebricht es an dynamischer Balance zwischen linker und rechter Hand und eilt das Pedal vernebelnd zu Hilfe. Und landet Barenboim - wie bei der "Sturm"-Sonate - mitunter schon bei Schumann, so ist er auch imstande, mit pointierter Heiterkeit diszipliniert in die Wiener Klassik einzutauchen (op. 14/2). Fortsetzung folgt. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.4.2004)