Ende April 2003 begingen die religiösen irakischen Schiiten zum ersten Mal nach dem Fall Saddam Husseins ihre Arbain-Wallfahrt in Freiheit. Heute, ein Jahr später, könnte nach den Feiertagen eine Militäroffensive ihrer damaligen Befreier auf die wichtigsten schiitischen Städte bevorstehen, obwohl es dort keine Baathisten mehr gibt. Najaf, das Zentrum Kerbalas, Kufa, das inzwischen wieder "zurückeroberte" Kut - alles in den Händen der Milizen des Muktada al-Sadr. Insider schätzen die lokale Unterstützung für den radikalen Schiitenpolitiker jetzt und heute auf bis zu dreißig Prozent.

Die meisten dieser Leute sind keine klassischen Anhänger Sadrs, sie wollen ihn nicht als Staatschef und schon gar nicht als geistlichen Führer. Aber er ist zum Symbol des Widerstandes gegen die USA geworden, gemacht worden. Zum Teil ist das sogar bei den Sunniten passiert, deren Widerstand gegen den neuen Irak ja auch von der Angst vor der schiitischen Domination gespeist, also antischiitisch, ist. Bei Demonstrationen tragen Sunniten nun das Bild des von Israel getöteten Scheich Ahmed Yassins neben dem Sadrs.

Diese ungewöhnliche Ehre hat Letzerer nur den USA zu verdanken: Gegen Sadr vorzugehen - in einem Konflikt, der seit langem schwelte und dessen Beendigung auch noch etwas länger hätte warten können - und gleichzeitig den Rachefeldzug für vier getötete Amerikaner in Falluja zu starten war ein Kapitalfehler, der nun zu den anderen Fehlern der USA im Irak hinzuaddiert werden muss.

Ein Jahr lang bemühten sich Beobachter um die Antwort auf die Frage, ob eine Zusammenarbeit von radikalen Sunniten und Schiiten, die man ja in allen Bürgerkriegsszenarien als Gegner sieht (und diese Analyse bleibt aufrecht), gegen die US-Besatzung möglich sei. Tatsächlich hat heute im Irak der alte panislamische Traum einer sunnitisch-schiitischen Allianz erstmals einen existenten Hintergrund. Sunniten und Schiiten beteten am Freitag gemeinsam, organisierten Hilfskonvois für das belagerte Falluja. Und in welcher Form die radikalen Ränder zusammenarbeiten werden, liegt auf der Hand.

Ebenfalls eine Leistung der USA ist die totale Bloßstellung des von ihnen geschaffenen Regierungsrates (IGC), derjenigen Instanz, der - auch wenn sie anders heißen wird - die USA im Juni die irakische Souveränität übertragen wollen. Der IGC wurde beim Vorgehen gegen Sadr übergangen, trotzdem wurde der Innenminister für die Konsequenzen abgestraft.

Dementsprechend schwach ist der IGC als Vermittler: Da muss man eher auf den Einfluss Ayatollah Sistanis und vielleicht auch aus dem Iran hoffen. Falls Sistani, wie manche meinen, Sadr dazu benützt hat, um die USA unter Druck zu setzen und sie seinen, Sistanis, politischen Wünschen gegenüber gefügiger zu machen, dann hat er hoch gepokert. Seinen theologischen Rang kann ihm der junge Hitzkopf nicht ablaufen, aber den Politiker Sadr loszuwerden wird nicht mehr so einfach sein. Und genau dieses Problem haben auch die Amerikaner. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10./11./12.4.2004)