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EPA/PIERRE TOSTEE
Einige Individualisten bewahren aber den Pioniergeist. Von Surfern, die in die Jahre gekommen, aber auf der Welle geblieben sind.

Tief im Südwesten, wo die Sonne verstaubt. Wo Kalifornien beinah schon Mexiko ist. Sitzt Gary Linden - "sag' bitte Gary zu mir" - an einem, an seinem Strand bei San Diego und blickt aufs offene Meer hinaus. Etwa hundert Meilen westlich von hier liegt ein Gebirge namens "Cortes Bank" im Pazifik, dort draußen rollen wahre Ungeheuer von Wellen daher, eines nach dem anderen. Vor wenigen Jahren noch hätte niemand diese Ungeheuer abzureiten gewagt. Nun lässt sich der Surfer von einem Jetski zur Monsterwellen ziehen, das verringert immerhin das Risiko von enorm auf sehr hoch. Und es gibt Typen, die da draußen tatsächlich bis zu 25 Meter hohe Wellen abreiten.

Doch für Gary wurde, was "Cortes Bank" betrifft, der Jetski zu spät erfunden. "Das kann ich abhaken", sagt er und streicht sich die blonden Strähnen aus dem Gesicht. "Aber das interessiert mich sowieso nicht." Die Frage, ob das Abhaken zuerst da war oder das Desinteresse, stellt sich ihm nicht wirklich. Stattdessen erinnert sich Gary zurück.

Die Zeit der Beach Boys

Es war die Zeit der Beach Boys, die Surfer in Kalifornien hatten noch keine Industrie, sie bauten sich ihre Bretter selbst, die Sechziger waren jung. Und der 12-jährige Gary aus San Diego blickte auf zu seiner älteren Schwester Diane und deren Boyfriends. "Sie hatte", erzählt er, "alle total im Griff. Alle bis auf einen. Nur Jim McDonald machte, was er wollte, und nicht, was sie wollte. Jim war wirklich cool. Jim war Surfer." Jim war Dianes Freund in jenem Sommer 1962, in dem Gary seine erste Welle ritt. Exakt am 4. Juli geschah das übrigens, dieser Tag heißt freilich nicht erst seit damals "Independence Day".

Das Surfen war Garys Bestimmung. Im Sommer verdingte er sich als Zeitungsjunge, und im August hatte er das Geld für sein erstes Board beisammen. "Es war aus Holz und kostete zwanzig Dollar, ein wenig musste ich es noch bearbeiten." Das Brett trug - genau wie Gary - regelmäßig Schrammen davon, und so hatte der Bub bald heraußen, wie man ein angeschlagenes Board pflegt und wieder herrichtet. Das Entwerfen und Erzeugen von Brettern sollte Garys Beruf und Berufung werden, nebenbei machte er sich als Organisator vieler Events einen klingenden Namen in der Szene. Doch vorerst schrieb er sich als 15-Jähriger in den Surf-Club "Las Olas" (die Wellen) ein. "Endlich war ich gut genug, um aufgenommen zu werden."

"Noch der Bub von damals."

Heute zählt Gary 54 Sommer, und doch behauptet er: "Ich bin immer noch der Bub von damals." Okay, der Bub ist seit 30 Jahren verheiratet, und zwei erwachsene Töchter sind bereits aus dem Haus, das in Carlsberg bei San Diego steht. Doch die blonde Mähne lässt sich noch immer nicht bändigen, und die Augen leuchten, wenn Gary erzählt aus seiner Vergangenheit und von seinen Plänen.

Die Stirn legt sich nur in Falten, wenn er sich konzentriert, wie gerade eben. Gary tut, was er unzählige Male schon getan hat, er richtet sein Brett her, reibt die Oberfläche mit einem speziellen Wachs ein, um Ausrutschern vorzubauen. Nebenbei erzählt er, dass ihn die Herausforderung genauso fesselt wie damals, als er seine erste Welle ritt. "Mann gegen Natur, das ist die Herausforderung", sagt er, um sich gleich selbst zu korrigieren: "Mann mit Natur, so muss es lauten."

Die Surf-Welt steht für Gary Pars pro Toto

Zu viele Menschen, zu viel Gegen-, zu wenig Miteinander. "Für andere ist es nur Business, für mich ist das Surfen ein ewiges Abenteuer, es ist Lifestyle und Kunst." Es stört ihn, wenn Jungspritzer wie Kelly Slater, der sechsmalige Weltmeister, Respekt vermissen lassen. "Hätte es seinerzeit nicht Typen wie mich gegeben, dann könnte es heutzutage Typen wie Kelly nicht geben." Logisch sei die ewige Suche nach Herausforderung, nach der nächsten, noch größeren Welle. "Das liegt daran, dass keine Welle wie die andere ist. Und einige von uns brauchen die Challenge."

Es ist besser, viel besser, als man glaubt, im Norden Kaliforniens, wo nicht wenige Surfer leicht verächtlich die Mundwinkel hochziehen, wenn die Rede auf die Beach Boys im Süden kommt. Hier heroben trägt man beim Surfen keine Shorts, hier trägt man Neopren. Der Gummi ist schon einige Millimeter dick, in der Gegend um San Francisco kriegt das Meer kaum einmal zwanzig Grad. Doch die Wellen, die können sich sehen lassen.

Die Wellen in der Bodega Bucht, kein Mensch hat diese Wellen öfter abgeritten als Dale Webster. 55 Jahre ist Dale alt, mehr als die Hälfte seiner Tage hat er zumindest teilweise auf dem Brett verbracht. Man schrieb den 29. Februar 1976, damals war Gerald Ford US-Präsident, und ein Liter Benzin kostete 15 Cent, als Dale Webster beschloss, nicht etwa die nächsten sieben Jahre lang jeden Tag surfen zu gehen, sondern die nächsten sieben Schaltjahre. Und so fanden sich am 29. Februar 2004 Dutzende Freunde, Fans und Journalisten ein, um den verrückten Kalifornier dabei zu beobachten, wie er seinen verrückten Rekord zu Ende brachte - nach 10.407 Tagen, 30 kaputten Surfboards und 28 zerschlissenen Neopren-Anzügen.

Im Guiness-Buch der Rekorde

Dale Webster hat es zu einer Eintragung ins Guinness-Buch der Rekorde gebracht. Weil die Guinness-Buch-Leute keine Ehegatten als Rekordzeugen anerkennen, musste Dales bessere Hälfte Kaye mehr als 30 Jahre lang darauf warten, dass er sie vor den Traualtar führt. Ohrenentzündungen, Nierensteine, grippale Infekte und die schlimmsten Stürme haben ihn nie davon abgehalten, hinaus zu gehen. Nun setzt Dale sich neue Ziele und verspricht seiner Kaye, er werde "die nächsten dreißig Jahre den Abwasch erledigen". Surfen gehen wird er auch, ab und zu. "Manchmal habe ich das Gefühl, es kommt eine Welle nur für mich von da draußen herein. Es ist verrückt, aber Wellen sind Lebewesen."

Die jungen Surfer, sie streiten heutzutage um ihre Spots. Das ist in Kalifornien nicht anders als in Australien oder auch in Europa, an der Atlantikküste Frankreichs oder Portugals. Wenn du als Zugereister mit einem Surfboard auf dem Autodach irgendwo dein Zelt aufschlägst, dann kann es schon passieren, dass du aufwachst in der Früh, und sie haben dir entweder das Brett gestohlen oder die Luft aus den Autoreifen gelassen oder beides. Auch Dale Webster hat genügend Wickel erlebt in der Bodega Bucht, sei's am Salmon Creek Beach, am Dillon oder am Doran Beach. "Vielen jungen Surfern", sagt er, "fehlt der Respekt. Nicht der Respekt vor den anderen Surfern, sondern der Respekt vor dem Surfen an sich."

Zu Ehren der Götter

Auf Hawaii und Tahiti waren die Könige bereits im 15. Jahrhundert zu Ehren der Götter mit langen, gebogenen Brettern auf den Wellen Richtung Festland geritten. Nach Kalifornien schwappte die Welle erst 400 Jahre später. In den Sixties bevölkerten Hunderttausende die Strände von Santa Cruz, Oceanside, Laguna Beach und Malibu, die Beach Boys sangen "Surfin' USA" und "California Girls".

Andy Martin, Französisch-Dozent in Cambridge und begeisterter Wellenreiter, hat "Walking on Water" geschrieben, die Bibel der Surfer. "Gott surfte die Welt ins Leben", heißt es da. Professor Martin sagt: "Das Schlimme am Surfen ist: Du brauchst einen neuen Grund, du suchst die nächste, noch perfektere Welle. Dabei gibt es kein Ende, du kannst dir immer noch etwas Vollkommeneres vorstellen. Surfen ist eigentlich eine Tragödie."

Gary und Dale sehen das etwas anders. "Surfen ist mein Leben", sagt Gary und greift zum Telefon, um einen Kumpel in Brasilien anzurufen, den er demnächst besuchen will. Ein paar hundert Kilometer nördlich trocknet Dale in seiner Küche gerade das Geschirr ab und überlegt, ob er nachher wieder losziehen soll mit seinem Board. "Ich muss", sagt er, "nicht jeden Tag surfen gehen. Aber vielleicht sollte ich es gerade heute tun." (Der Standard/rondo/09/04/2004)