In den vergangenen Wochen und Monaten eines immer klarer geworden: Die Schiiten sind als unerwartete Gewinner aus dem Irakkonflikt hervorgegangen. Regierungsstellen, die seit Jahrzehnten die Schiiten brutal unterdrückt hatten, mögen dies vielleicht immer noch abstreiten - die Terroristen jedoch nicht. Wie die Schiiten selbst erkennen auch sie sehr wohl, dass die schiitischen Muslime in der gesamten Golfregion erheblich an politischer Macht hinzugewinnen, sich ihrer Fähigkeit bewusst werden, sich zu organisieren - und sich auf das Geschenk zu besinnen, das buchstäblich unter ihren Füßen liegt: Öl.

Nach Jahren der Unterdrückung durch das Regime Saddam Husseins kosten die Schiiten erstmals wieder den Geschmack der Freiheit - und sie spornen ihre religiösen Glaubensbrüder rund um den Golf ebenfalls zur Durchsetzung ihrer Forderungen an. Sie sind sich nun auch der Tatsache bewusst, dass durch einen geographischen Zufall die weltgrößten Ölvorkommen ausgerechnet in Regionen liegen, in denen sie die Mehrheit bilden: im Iran, im Ostteil Saudi-Arabiens, in Bahrain und im südlichen Irak. Herzlich willkommen also zur neuen Nationengemeinschaft "Petrolistan"!

Die neu entdeckte Macht der schiitischen Muslime in dieser unbeständigen Region stellt sowohl für die alten sunnitischen Establishments, die noch an der Macht sind - außerhalb des Irans - als auch für die USA eine gewaltige Herausforderung dar. Die Zeiten der schiitischen Unterwürfigkeit sind endgültig vorbei.

Wendepunkt 9/11

Was also planen die Schiiten? Woher beziehen sie ihre Eingebungen? Werden sie demnächst von bärtigen Männern mit Turbanen und verhüllten Frauen regiert oder werden wir Männer in Anzügen und Frauen mit High Heels sehen? Und wenn sie demokratische Verhältnisse wollen - wird das irgendjemand als solche erkennen?

Erst 1979 erschienen die Schiiten das erste Mal auf westlichen Radarschirmen, als sie im Iran als Kopf einer brutalen Revolution hervortraten, in deren Folge Tausende von Menschen getötet und der Schah gestürzt wurde. Aus westlicher Perspektive sind die Schiiten seitdem das feindselige und militante Gesicht des Islam, das beabsichtigt, andere Regionen mit Gewalttätigkeiten zu überziehen.

Im Vergleich zu den Schiiten erschienen die Sunniten - selbst so fundamentalistische Gruppierungen wie die Wahhabis in Saudi-Arabien - bis dahin noch als zahm. Das änderte sich jedoch mit den Terrorangriffen auf die USA vom 11. September 2001 von Grund auf.

Die Flugzeugentführer waren allesamt Sunniten. Ihre Gastgeber und Unterstützer, die Taliban, waren ebenfalls Sunniten, wie auch alle Gefangenen auf der US-Militärbasis Guantanamo Bay auf Kuba, die zum Kriegsgefangenenlager umfunktioniert wurde. Sunnitische Muslime beherrschten Saddam Husseins Bath-Regime - und das so genannte sunnitische Dreieck im Zentralirak ist Schauplatz der erbittertsten Feindseligkeiten gegenüber den von den USA angeführten Besatzern und deren Unterstützer vor Ort. Innerhalb weniger Monate sind die sunnitischen Muslime als größte Bedrohung für die westliche Welt und die internationale Sicherheit an die Stelle der Schiiten getreten.

Die schiitischen Minderheiten behaupten ihrerseits, dass sie die Demokratie willkommen heißen. Doch Minderheiten - vor allem solche mit einer Vorgeschichte der Unterjochung - tun dies immer (zumindest für einige Zeit), weil es ihnen gestattet, einen Anspruch auf ihre Religionsfreiheit zu stellen und ihre eigene kulturelle Identität zum Ausdruck zu bringen.

In Saudi-Arabien stehen die Schiiten an vorderster Front derer, die einen Wechsel zu demokratischen Verhältnissen begrüßen. Obwohl sie nur 20% der Gesamtbevölkerung Saudi-Arabiens ausmachen, sind sie in der ölreichen Ostregion mit 75% in der Mehrheit.

Saudi-Arabiens Schiiten haben lange Zeit unter starker Diskriminierung in der Arbeitswelt gelitten: bei den Streitkräften, in hohen Regierungsstellen, beim diplomatischen Korps und vor allem in der Ölindustrie, aus der sie seit den achtziger Jahren ausgeschlossen waren.

Diese systematische Ausgrenzung der Schiiten wird vom religiösen Establishment der Wahhabi unterstützt und durch zahlreiche "Fatwas" - religiöse Rechtsgutachten einflussreicher Muftis -, die sie als Ketzer brandmarken, legitimiert.

Kein Interesse mehr ...

In Bahrain bilden die Schiiten 75% der Gesamtbevölkerung. Sie hatten die von König Hamad Al-Khalifah in die Wege geleiteten Reformen schon lange herbeigesehnt. Sie entschieden sich dafür, eine politische Herrschaft der sunnitischen Minderheit zu akzeptieren, statt sich der iranischen Form der Regierung zuzuwenden. Doch die neue Generation von Schiiten in Bahrain ist streitbarer, und ihre Ansichten finden bei ihren Glaubensbrüdern in Saudi-Arabien immer mehr Widerhall.

Es war die Bedrohung durch die schiitische Gewaltbereitschaft aus dem Iran, die die politischen Anführer der Nationen in der Region zur Gründung des Golfkooperationsrates im Jahre 1981 veranlasste, um ihre Kräfte zu bündeln. Doch wurde diese Initiative etwas zu spät ergriffen. Im selben Jahr gab es in Bahrein einen Umsturzversuch, der direkt auf einen Schiitenaufstand in Saudi-Arabien ein Jahr zuvor folgte.

... am "Modell" Iran

Heute ist die Revolution kein Exportgut des Iran mehr. Sein Experiment mit einer islamischen Form der Demokratie ist zu diesem Zeitpunkt in erster Linie eine innere Angelegenheit. Jedenfalls scheint keiner der irakischen Ayatollahs, die sich einst im Iran im Exil befanden, in irgendeiner Weise geneigt zu sein, das iranische Modell zu übernehmen. Zunächst haben sich die Schiiten im Irak relativ ruhig verhalten, der "De-Bathifizierung" zugesehen und auf ihre Zeit gewartet. Doch seit der Gefangennahme Saddams sind sie mit ihren Forderungen immer mehr hervorgetreten und haben mit ihrer Beharrlichkeit die USA dazu genötigt, deren Pläne für den Irak mehrmals umzugestalten.

Nachdem sie jahrzehntelang der Verlierer der Region waren, sehen die Schiiten nun eine Chance, das Gleichgewicht wieder herzustellen, alte Rechnungen zu begleichen - und Kontrolle über den Reichtum Petrolistans auszuüben. Doch ohne Kampf werden sie nicht erfolgreich sein, wie die jüngsten Anschläge und blutigen Unruhen deutlich machen. (DER STANDARD, Printausgabe, 7.4.2004)