Die beängstigendste Nachricht aus dem Irak blieb am Montag eher im Hintergrund, und man kann auch immer noch hoffen, dass ihr ein Einzelfall, vielleicht sogar eine Verkettung unglücklicher Umstände zugrunde liegt: Bei den Auseinandersetzungen zwischen Anhängern des jungen radikalen Schiitenführers Muktada al-Sadr und der Besatzungsmacht sollen irakische Polizisten auf US-Truppen geschossen haben.

Das wirft die Frage auf, die sich bisher niemand so recht zu stellen traut: Wo werden die irakischen Sicherheitskräfte, wo wird die irakische Armee stehen, wenn es zum Show-down zwischen den USA und ihren irakischen Verbündeten einerseits und starken irakischen Führern - etwa eines vom Kaliber Ayatollah Sistanis - andererseits kommt? Sind die USA gerade dabei, diejenigen zu bewaffnen, die später Waffen gegen sie erheben werden?

Aber das ist ein Blick in eine Zukunft, die dem Irak erspart bleiben möge. Die Gegenwart ist dramatisch genug, wir sind Zeugen der ersten großen Auseinandersetzung zwischen Besatzern und Irakern, in der Schiiten die Hauptrolle spielen: Es sind nicht "die" irakischen Schiiten, es ist ein radikaler Ausschnitt aus der religiösen Schia. Und wenn ein Irak-Experte im Standard-Gespräch (Seite 2) meint, dass da lediglich der bereits marginalisierte Radikalinski Muktada al-Sadr einen letzten politischen Profilierungsversuch unternimmt, so ist das ebenso plausibel wie - einigermaßen - beruhigend.

Darüber hinaus heißt es auch, dass die Verhaftung Mustafa Yakubis, eines Mitarbeiter Sadrs - die neben einer Zeitungsschließung die Unruhen am Sonntag im Najaf ausgelöst hatte -, mit der Ermordung des angesehenen Schiitenführers Abdul Majid al-Khoei vor genau einem Jahr in Zusammenhang steht. Wenn das stimmt und wenn es der US-Zivilverwaltung auch gelingt, das überzeugend und flächendeckend zu kommunizieren, dann ist das eine gute Nachricht. Kein gemäßigter Schiite im Irak, und das sind die meisten, sympathisiert mit den Mördern Khoeis, die ja dann im Umkreis Sadrs zu suchen wären.

Das klingt kompliziert, aber die einfachen Schematisierungen haben ja im Irak nie funktioniert. Nach den Beobachtungen des letzten Jahres kann man nur hoffen - und leise daran zweifeln -, dass sich das auch bis zur US-Besatzungsmacht durchgesprochen hat, von der jetzt besonders sensibles Vorgehen gefragt ist.

Der höchste Akt der politischen Idiotie wurde übrigens gerade abgewendet: Im feministischen und minderheitenfreundlichen Überschwange zugleich - der Irak soll ja ganz anders sein als die böse arabische Welt! - überlegte man eine Zeit lang, eine turkmenische Frau zur ersten irakischen Verteidigungsministerin der Post-Saddam-Ära zu machen. Was, alle Frauen und alle Turkmenen mögen es verzeihen, ein sicheres Weg ins Desaster gewesen wäre - siehe oben, die Frage des Aufbaus der Loyalitäten der neuen irakischen Armee.

Nach dem Wegfall Saddams, zu dem es keine öffentliche Alternative gab, suchen viele Iraker und Irakerinnen nach einer neuen Orientierung. Moktada al-Sadr ist es gelungen, erfolgreich im Pool der schiitischen "lost generation" des Irak zu fischen - die sozial schwächsten Schichten plus der in den Sanktionsjahren abgesackte Mittelstand. Armut, Kriege, Repression: Das schiitische Proletariat kennt nichts anderes, und in ihre entideologisierte Brutalisierung stößt auf einmal das vor, was sie für eine islamische Alternative halten.

Die ehrwürdigen, gemächlichen Mullahs, die die breite Masse ansprechen, tun sich schwer, neben den radikalen Lösungen des Muktada al- Sadr bei der verlorenen Jugend mitzuhalten. Aber es wird nicht nur an den USA, sondern hauptsächlich an ihnen liegen, wie die Sache ausgeht. Die Frage ist, ob sie stark genug sind, ihren Anhängern auch noch nach den Enttäuschungen des ersten Post-Saddam-Jahres die Tatsache zuzumuten, dass in dieser Frage die Besatzer nicht ihre Feinde sind. (DER STANDARD, Printausgabe, 6.4.2004)