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Foto: APA/EPA/Yuri Kochetkov
"Die Wohnung meiner Mutter, wo ich gemeldet bin, ist vermietet. Bei meinen Großeltern kann mich kein Einberufungsbescheid erreichen", erzählt Andrej von seiner Taktik, der Einberufung in die russische Armee zu entkommen. Weil die Probleme hat, genug Rekruten zu bekommen, können Verweigerer durch Polizeikontrollen von der Straße weg zur Armee abkommandiert werden – zumindest bisher eine gefürchtete Methode.

Mit April begann die jährliche Frühjahrseinberufung, bei der rund 170.000 Jugendliche rekrutiert werden. Im Vorjahr haben sich angeblich knapp 20.000 junge Wehrpflichtige so versteckt wie Andrej heuer. Der Präsenzdienst ist gefürchtet: Jedes Jahr desertieren Dutzende, immer wieder kommt es zu Blutbädern mit entwendeten Waffen.

Wegen zunehmender Militarisierung wollen laut Umfrage 77 Prozent der Russinnen und Russen nicht, dass ihre Angehörigen in der Armee landen. Besonders gefürchtet sind Menschenrechtsverletzungen; konkret die "Dedowschina", jenes gewalttätige Initiationsritual, bei dem immer wieder junge Rekruten von älteren Kameraden oder Offizieren auch zu Tode geprügelt werden.

Vor allem der informierten und ausreichend begüterten Schicht gelingt es, der Einberufung zu entkommen. Umgerechnet 250 bis 8100 Euro verlangen Ärzte in korrupten Stellungskommissionen für ein Untauglichkeitsattest.

Rechtshilfe

Um die legalen Wege zur Befreiung vom Wehrdienst oder dessen Aufschub zu betreten, bietet der "Verein für Soldatenmütter" seit mehr als einem Jahrzehnt Informations- und Rechtshilfe. Als legal gelten laut russischem Gesetz gesundheitliche Schäden, die Pflege für pensionierte Angehörige oder seit neuestem auch die Schwangerschaft der Lebensgefährtin. Da geburtenschwache Jahrgänge kommen, soll ein Aufschub für Studenten ab Herbst allerdings nicht mehr möglich sein.

Seit heuer gibt es in Russland erstmals die Möglichkeit des Zivildienstes. Aber noch fehlen Bestimmungen dafür, wie dieser durchzuführen sei. Außerdem: Wer jetzt als Zivildiener beginnen möchte, muss den Antrag bereits im Vorjahr, als das Gesetz noch nicht in Kraft war, eingebracht haben – möglicherweise Kinderkrankheiten des neuen Systems, vielleicht aber schon Schikanen der Armeelobby.

206 Hartnäckige

Immerhin 206 Hartnäckige haben ihr Recht vor Gericht durchgesetzt. Sie gehen als erste Zivildiener in die russische Militärgeschichte ein. Für den Herbsttermin liegen laut Generalstab 500 weitere Anträge vor, Menschenrechtsorganisationen zufolge sind es aber eineinhalbmal so viele. Letztlich erwartet man bis zum Herbsttermin zwischen 3000 und 20.000 Anträge.

Begründet werden muss die Wahl für den Dienst in sozialen Einrichtungen mit – nicht näher definierten – Gewissensüberzeugungen oder mit der Zugehörigkeit zu einer kleinen Bevölkerungsgruppe.

Was aber potenzielle Zivildiener mehr abschreckt, ist die Dauer: Im Unterschied zum zweijährigen Präsenzdienst sieht das Gesetz dreieinhalb Jahre vor, nur für Dienende mit höherer Bildung die Hälfte. Und auf drei Jahre reduziert sich die Dienstzeit bei einem Einsatz in einer militärischen Einrichtung.

Dass der Zivildienst überhaupt auch in solchen stattfinden kann, kritisieren die Menschenrechtler als genauso sinnwidrig wie das Prinzip der Exterritorialität, dem zufolge Zivildiener außerhalb ihres Wohnortes eingesetzt werden sollen – das können in Russland Tausende Kilometer sein. (DER STANDARD, Printausgabe, 3.4.2004)