Wien - Auch wenn der Fundamentalismus die derzeit vorherrschende politische Strömung in den islamischen Ländern zu sein scheint - auf sozialer Ebene wächst dennoch ein neuer Pluralismus in allen Schichten, es entsteht eine Bildungs- und Mediengesellschaft neuen Typs. Dieses erste Resümee zieht Wittgenstein-Preisträger Andre Gingrich aus einem soeben abgeschlossenen, umfangreichen Forschungsprojekt der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Uni Wien, in dem ein Team österreichischer SozialanthropologInnen in Detailstudien verschiedene Gesellschaftsentwicklungen in islamischen Ländern analysiert hat. Allerdings werden "unter dem Druck dieser sich ändernden Verhältnisse einige der etablierten islamischen Kräfte radikaler", folgert Gingrich aus den Studienergebnissen.

"Innere Islamisierung"

Eine Hauptursache für die Ausbreitung der fundamentalistischen Richtungen im Islam sah die Forschung bisher im wirtschaftlichen und technischen Wandel, der - so die These des Cambridge-Professors und Altösterreichers Ernest Gellner (1925-1995) - zu einem Rückgang mündlicher Überlieferungen geführt hat. Gellner war davon ausgegangen, dass der Islam eine primär städtische und schriftliche Religion sei, die sich erst mit Hilfe moderner Medien und Infrastruktur in stadtferne und ländliche Gebiete hin ausgebreitet habe. Diese "innere Islamisierung" habe die mündliche Überlieferung und Volkskultur verdrängt und sei zugleich Ausgangspunkt der islamistischen Gegenbewegung gegen die Moderne geworden, postulierte Gellner.

Schleier-Verbreitung

Tatsächlich war, so Gingrich im Gespräch mit der APA, etwa der Schleier in der Mehrheit der ländlichen Bevölkerung bis zum Ende der 60er Jahre nicht vorhanden, sondern vor allem ein städtisches Oberschicht-Phänomen. In der breiten ländlichen Masse dominierte dagegen eine bunte Volksfrömmigkeit mit minimalen Grundprinzipien. Und erst im Zuge der mit der Modernisierung einhergehenden Gegenbewegung sei im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts der gebildete, vornehme städtische Imam durch den ins Mikrophon schreienden Mullah abgelöst worden. Doch die Ergebnisse des Forschungsprojekts ("Literacy, Local Culture and Construction of Identity in the Muslim World") revidieren Gellners These vom allmählichen Absterben mündlicher Überlieferung, "schriftliche und verbale Kommunikationsformen müssen nicht immer starre Gegensätze sein, sondern sie können einander teils vielfältig durchdringen oder auch parallel zueinander koexistieren", betonte Gingrich.

Heterogener Pluralismus

Gingrich will keinesfalls die Gellner'schen Leistungen schmälern, "für die Entwicklung der Gegenwart und der Zukunft deckt sein Werk aber nur noch Bruchteile der Realität ab". Die nun abgeschlossenen Detailstudien der SozialanthropologInnen zeigen aber, dass die "vulgarisierte Schriftfrömmigkeit nur eine Facette des Gesamtspektrums ausmacht, die zudem schwächer und vielleicht auch deshalb radikaler geworden ist". Dahinter und darunter wachse aber ein heterogener Pluralismus an sozial und medial vermittelten Wissensformen, der nach Ansicht Gingrichs einen langen Atem hat. "Esoterik-Boom" als Zeichen der Vielfalt

Inmitten dieser neuen Vielfalt breitet sich zum Beispiel eine neue Variante von Spiritualität aus, der Glauben an die "Dschinn", zeigt eine der Detailstudien zu dem Projekt. Diesen Dämonen, an die zu glauben der Koran in einer kleinen Stelle zwar verlangt, denen aber ganz unterschiedliche Bedeutung zugemessen werden kann, und dem Umgang damit speziell in Syrien widmet Gebhard Fartacek von der ÖAW-Kommission für Sozialanthropologie seine Arbeit. In dem Land gibt es wie auch in anderen Nahost-Regionen laut Andre Gingrich eine neue Woge des Dämonenglaubens, was mit dem Aufleben des Schamanismus vergleichbar sei. "Auf der Suche nach Hilfestellungen und Orientierung in einer komplexer werdenden Welt wird Zuflucht bei Phänomenen wie den Dschinn gesucht, entsteht so etwas wie ein Esoterik-Boom", erklärte der Anthropologe. Gerade in bestimmten Landesteilen Syriens, wo dem Einzelnen besonders wenig Handlungsspielraum zugestanden wird, ist der Dämonenglaube umso ausgeprägter.

Lebenssituation von Flüchtlingsfrauen

Wie islamische Gesellschaften mit Flüchtlingen umgehen thematisiert ÖAW-Stipendiatin Gudrun Kroner, die sich in Gaza und Kairo der Lebenssituation von Frauen, speziell Flüchtlingsschicksalen aus Somalia und Palästina, gewidmet hat. Sie zeigt, dass Flüchtlingsfrauen in urbanen Zentren, mit wenig Zugang zu Schriftkultur oder neuen Medien, dennoch in die neuen Rollen von Alleinversorgerinnen hineinwachsen können. Dies sei umso bemerkenswerter, als unter den verheerenden Rahmenbedingungen, wie sie etwa in Gaza herrschen, der Konservatismus mit Tendenzen wie "Frauen zurück an den Herd" gestärkt werde. Zugleich zeigt Kroner aber auch, dass der Islam alleine es nicht schafft, den untergeordneten Status eines Flüchtlings zu verbessern.

"Religiöse Experten" standen im Mittelpunkt des Projekts von Wolfgang Kraus, und zwar die "heiligen Familien" - meist Nachfahren des Propheten Mohammed - im Hohen Atlas in Marokko. Bei Gellner sind diese "Heiligen" Brennpunkte des ländlichen Islam, denen nicht nur eine Schlüsselrolle als Multiplikatoren von gelehrtem Schriftwissen, sondern auch als neutrale Schlichter und Vermittler zukommt. Durch die Binnenmobilität gebe es aber auch im direkten Einflussbereich der "heiligen Familien" immer mehr ortsfremde Menschen, die mit lokaler Tradition und Geschichte nichts mehr zu tun haben. Dieses Vorhandensein von zwei parallelen Lebensformen ist für Gingrich ein weiterer Beleg für den zunehmenden Pluralismus.

Neue Kommunikationsformen

Dies zeigt auch Claudia Kickinger, die in einem Teilprojekt die Auswirkungen des Pflichtschulunterrichts auf halb-nomadische Bevölkerungsgruppen in Syrien untersucht hat. Sie dokumentiert, dass die - auch für Mädchen - verpflichtende Volksschule in diesen Gemeinschaften, an denen auch Lehrerinnen unterrichten, neue Instrumente für erweiterte Kommunikation und Identitätsfindung bereitstellt. Dadurch werden aber traditionelle Kommunikationsformen nicht notwendigerweise ersetzt. Vielmehr werden diese ergänzt, zum Beispiel durch Briefe, Urkunden, Behörden, Arbeitsplatz, Führerschein-Erwerb, etc.. So wird abgewogen, in welchem Fall welche Kommunikationsmittel eingesetzt werden, was wiederum die althergebrachten Instrumente auf unterschiedliche Weise relativiert. "Dadurch entsteht eine neue, aber immer noch in religiöse Vorstellungen eingewobene Form von Pluralismus auf der Ebene der Zivilgesellschaft, der vielleicht auch einen zukünftigen Demokratieschub vorbereitet", betont Gingrich.

"Auf sozialer Ebene - nicht auf der politischen - entsteht so in allen Schichten ein neuer, heterogener Pluralismus, vor allem im Bereich von sozial und medial vermittelten Wissensformen", zieht Gingrich den Schluss aus den Detailstudien, die auch in mehreren Buchpublikationen veröffentlicht werden. Dies habe aber fast zwangsläufig auch zu einer Gegenbewegung und verstärkter Radikalität seitens etablierter islamischer Kräfte geführt. (APA)