Auf eine große Koalition der Fremdenangst kann sich die Bundesregierung in Österreich stützen, wenn sie den Arbeitnehmern aus den neuen EU-Staaten am 1. Mai die geöffnete Tür zur Union gleich wieder vor der Nase zuschlägt.

Die bis zu sieben Jahre währende Beschränkung der Freizügigkeit war nicht nur für Außenministerin Benita Ferrero-Waldner das "zentrale Verhandlungsthema" bei der Vorbereitung der EU-Erweiterung, sondern auch für einen Großteil der Bevölkerung ein wichtiges Anliegen - in Österreich wie in Deutschland.

Der entsprechende Beschluss des Ministerrats am heutigen Dienstag in Wien, der dies in verbindliche Form gießt, ist daher konsequent. Angesichts der bevorstehenden Wahlen in Kärnten und Salzburg ist auch der Beratungstermin keine Überraschung.

Ob allerdings die Ängste vor Lohndumping, Jobkonkurrenz und Billigbietern aus dem Osten auch in Wirklichkeit berechtigt sind, steht auf einem anderen Blatt.

Auch bei der letzten Süderweiterung der Gemeinschaft 1986 sahen viele schon Scharen von portugiesischen oder spanischen Arbeitsuchenden nach Norden drängen.

Die Welle blieb aus. Stattdessen lassen seit Mitte der 90er-Jahre spanische Touristen die Kassen in London, Luxemburg oder Wien klingeln, die sich solche Reisen ohne EU-Beitritt wohl nie hätten leisten können.

Was die Erweiterung von heute von der von damals unterscheidet, ist nur, dass die Arbeitnehmer aus Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn kein hohes Gebirge mit wenigen Verkehrswegen von potenziellen Arbeitsplätzen trennt.

Sie können rasch - und sei es auch nur für einen Tag - nach Wien oder nach Berlin gelangen, wo ihre Arbeitskraft gebraucht wird.

Genau aus diesem Grund hatten sich im großen Verhandlungsjahr 2002 wohl auch die Regierungen Schwedens, Dänemarks, Großbritanniens und der Niederlande so weit aus dem Fenster lehnen können und den neuen Mitgliedstaaten Freizügigkeit ab dem ersten Tag versprochen: Das Phänomen der Grenzpendler aus dem Osten würde sie nicht betreffen.

Im Übrigen galt die iberische Erfahrung. Angesichts der Widerstände Deutschlands und Österreichs wirkte diese Großzügigkeit umso edler.

Dies erklärt die berechtigte Enttäuschung in den EU-Beitrittsländern angesichts der 180-Grad-Wende in London, Stockholm, Kopenhagen und Den Haag.

Der dort nun vorgebrachte Hinweis auf die schlechte Wirtschaftslage überzeugt nicht, litt doch Europa auch im Jahr 2002 schon unter der Flaute.

Entschuldigen für ihre Inkonsequenz kann sich daher höchstens die dänische Regierung, die damals die EU-Ratspräsidentschaft innehatte und daher ein positives Zeichen für die Freizügigkeit setzen musste.

Von Deutschland und Österreich hatten die Bürger und Politiker in den Beitrittsländern demgegenüber nie etwas anderes zu erwarten als die restriktiven Gesetze, die dort seit dem 29. Jänner und hier ab dem heutigen Dienstag auf den Weg gebracht werden.

So müssen sich die Regierenden in Österreich und Deutschland in dieser Frage zumindest keine Doppelzüngigkeit und kein Wecken falscher Hoffnungen vorwerfen lassen, auch wenn ihre Haltung im Ergebnis für die Menschen aus den Beitrittsländern am 1. Mai genauso wenig einen freundlichen Willkommensgruß im "Europa der Bürger" bedeutet.

Doch bei aller Enttäuschung ist aus der Freizügigkeitsaffäre für die EU-25 eine wichtige Lehre für die Zukunft zu ziehen: Unehrlichkeit rächt sich. Gerade angesichts der deutschen EU-Beitrittsverheißungen an die Türkei in diesen Tagen kann das nicht deutlich genug betont werden.

Wie will ein Bundeskanzler Gerhard Schröder seinen Bürgern einen vollberechtigten EU-Beitritt der bevölkerungsreichen Türkei vermitteln, wenn er nicht einmal die jetzige EU-Erweiterung ohne Schutzzaun gegen Arbeitssuchende zulässt? Wie will Tony Blair den Briten seine Unterstützung für Ankara erklären, wenn er heute vor den Anti-Roma-Kampagnen der Boulevardpresse einknickt? (DER STANDARD Printausgabe, 24.02.2004)