Die 23-jährige Kanadierin Claire Boucher alias Grimes interpretiert Kylie Minogue als Deep Soul und Musik der Gothic-Szene als fröhliche Kinderjause.

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Tief im Hallraum des Pop hat sich in den letzten Jahren ein Subgenre gebildet, das mit altbewährten düsteren Bausteinen nicht nur jene Vergangenheit beschwört, die mit Geisterstimmen ins Heute durchdringen will. Stichworte: Witch-House, Hauntology, Hypnagogie. Wachträume sind im Gegensatz zu Albträumen zumindest steuerbar. Die Verschränkung von düsterem Klangbild, das früher einmal Anfang der 1980er-Jahre unter "gothic" firmierte, mit ultrakitschigem synthetischen Pop aus derselben Ära erfährt etwa bei der unterschätzten Drogenband Salem neue Bedeutung. Der Reiz, harmonisch recht einfach gehaltene, nichtsdestotrotz bedeutungsschwere Keyboardsounds aus der Schule der damaligen New Romantics mit der exaltierten Dramatik der Gothic-Mutter Siouxie Sioux zu koppeln, darf also nicht unterschätzt werden. Es muss ja nicht gleich so retrogardistisch sinister wie bei der neuen Heldin Zola Jesus zugehen. Es muss auch nicht nach abgespeckter Taschenoper wie bei Austra oder traurig-tranig discotanzend wie bei Newcomerin Charli XCX klingen.

Einen Schritt weiter geht nun die 23-jährige Kanadierin Claire Boucher alias Grimes auf ihrem zweiten Album Visions. Weil man Sachverhalte nicht unnötig komplizierter machen soll, als sie es gar nicht sind, bleiben wir der Einfachheit beim Begriff Witch-House oder Pop aus dem Geisterhaus. Grimes schlägt mit den 13 Stücken ihres Albums nicht besonders weit aus der Art. Auch hier tuckern und pluckern alte Basssequencerspuren fröhlich hoppertatschig prototechnoid wie vor 30 Jahren bei der in letzter Zeit aller Orten wieder fröhlich zitierten Deutsch-Amerikanischen Freundschaft. Auch antike Drumcomputer-Sounds wie man sie etwa von den frühen Soft Cell um Marc Almond kennt, werden durchgehend eingesetzt.

Darüber aber bricht Claire Boucher das vorgestanzte Muster, indem sie fröhliche, in mehreren Schichten übereinandergelegte Barbie-Quietschgesangseffekte mit stilistischen Merkmalen des heutigen R'n'B kurzschließt. Auch die Tendenz, den im Hexengenre weitverbreiteten Bierernst durch die reuelose Oberflächlichkeit des dancefloorlastigen Sing-along-KinderzimmerPop zu ersetzen und dabei so zu tun, als wären etwa Kylie Minogue und Britney Spears verehrungswürdige große alte Damen des Deep-Soul-Genres, macht erheblichen Spaß. Die schlimmste Kellerasselmusik der Schwarzkittelszene war schließlich immer schon jene, die sich selbst tatsächlich ernst nahm.

Mit diesem in allen neonbunten Spektralfarben von Schwarz gleißendem Gothic-Soul-Elektropop hat Grimes jedenfalls Anfang 2012 alle Lacher auf ihrer Seite. Das Leben ist schwer genug. Man muss dazu nicht auch noch das Licht ausmachen. In den diversen Musikblogs von einsamen jungen Männern ist sie schon seit Monaten das nächste große Ding. Fotomodestrecken werden folgen. Im Übrigen bin ich dafür, dass sich die großen Alien Sex Fiend reformieren. Das wäre lustig. (Christian Schachinger, DER STANDARD/RONDO - Printausgabe, 2. März 2012)