Edward Barber und Jay Osgerby. 

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Foto: Hersteller

DER STANDARD: Im Grunde kann man mit jedem Stuhl schaukeln. Aber es gibt einen Punkt, ab dem das gefährlich wird und der Stuhl umfällt. Das passiert bei "Tip Ton" nicht.

Jay Osgerby: Nein, wir meinten, er müsse am besten von selbst stoppen.

DER STANDARD: Trotzdem ist das ein ungewöhnliches Sitzgefühl. Man traut der Sache nicht recht ...

Edward Barber: ... es dauert ein bisschen, sich daran zu gewöhnen. Man muss ausprobieren, wie weit vorn man sitzt, wo der Schwerpunkt liegen sollte, damit er sich angenehm bewegen lässt. Es ist interessant, dass man "Tip Ton" fast ein wenig erlernen muss.

DER STANDARD: Aber es ist kein Schaukelstuhl?

Osgerby: Nein, es gibt zwei definierte Sitzpositionen und dazwischen ein gewisses Spiel.

DER STANDARD: Das spielerische Element ist wichtig für diesen Stuhl?

Osgerby: Ja, und wir waren sehr glücklich, die Lösung für dieses Projekt gefunden zu haben. Und so einfach diese Lösung aussehen mag, so kompliziert ist der Stuhl herzustellen. Vitra hat ein 20-Tonnen-Werkzeug dafür bauen lassen, mit sieben beweglichen Teilen. Ein so komplexes Werkzeug hat es bei Vitra bislang nicht gegeben.

DER STANDARD: Was ist so wichtig daran, mit einem Stuhl schaukeln zu können?

Osgerby: Es gibt ausführliche Studien über das Lernen, die zeigen, dass man sich bewegen muss, um sich zu konzentrieren. Als Kinder wissen wir das von selbst. Bürostühle, die wir später nutzen, müssen uns erst wieder aktivieren.

DER STANDARD: Schulstühle schauen aber völlig anders aus als Ihr Entwurf. Warum?

Osgerby: Bis zu unserem Projekt wurden Schulmöbel mit dem Ziel entworfen, Schüler ruhig an einem Platz zu halten, mit dem Blick nach vorn, zum Lehrer gerichtet. Doch die Art, wie Menschen lernen, arbeiten und sich konzentrieren, hat sich gravierend verändert. Ähnlich wie im Büro gibt es Projektgruppen, man geht herum, wechselt die Arbeitshaltung, präsentiert, arbeitet wieder für sich allein. Es gibt längst eine Überschneidung in der Art, wie wir lernen, leben und arbeiten. Dabei soll unser Entwurf helfen.

Barber: Wenn der Körper sich nicht bewegt, schläft der Kopf ein. Das Gehirn wird dann nicht genug mit Sauerstoff versorgt. Das hat viel mit den Beinen zu tun. Wenn man die etwas in Bewegung hält, trägt das zur Blutzirkulation bei. Seit den späten 1960er- und 1970er-Jahren wurde sehr viel darüber geforscht, inwieweit Möbel das Lernen, die Konzentration und das Verhalten im Klassenraum beeinflussen. Vitra wiederum hat zur Auswirkung von Büromöbeln sehr viel geforscht und dazu, wie Menschen im Büro tatsächlich arbeiten. Einige ihrer Stühle haben eine Sitzmechanik, die dazu beiträgt, dass man unwillkürlich in Bewegung bleibt. Die Schwierigkeit bestand darin, eine Lösung zu finden, wie man die Wirkung einer komplizierten teuren Mechanik auf einen vergleichsweise billigen Stuhl übertragen kann. Denn der Stuhl ist konzipiert für eine Schulumgebung.

DER STANDARD: Viele Stahlrohrfreischwinger haben kleine Gummipuffer. Das läuft zwar dem Konzept des Freischwingers zuwider, schont aber den Boden. "Tip Ton" hat ebenfalls kleine Kufen eingebaut, warum?

Barber: Wir wollten einen sehr langlebigen Stuhl. Das einzige Problem, das wir da sahen, war, dass sich die Unterkante mit der Zeit abnutzen würde. Mit austauschbaren Kufen konnten wir das vermeiden. Außerdem können wir so für die unterschiedlichsten Böden eine passende Lösung anbieten. Wer weiß, ob Leute den Stuhl nicht beispielsweise auf einem Glasboden verwenden möchten.

DER STANDARD: Bei Ihren Entwürfen scheint es, als würden Sie etwas um einen Raum herum bauen.

Osgerby: Ja, unsere Produkte und Möbel sind um einen leeren Raum konstruiert, als hätten wir eine Linie gezogen. Man kann viele unserer Entwürfe mit dem Umriss eines Buchstabens vergleichen, mit einer Silhouette.

Barber: Als wir zusammentrafen, studierten wir Architektur. Wir zeichneten eine Menge Pläne, Schnitte von Gebäuden und solche Dinge. Ich sehe Dinge zunächst als eine grafische Form. Dann erst gehen wir in die dritte Dimension.

DER STANDARD: Wie wird aus einer Idee dann ein dreidimensionales Objekt? Erst recht so eine komplexe Form wie der Stuhl "Tip Ton"?

Barber: Normalerweise bauen wir recht schnell ein Modell. Zunächst ein ganz einfaches aus Schaum oder Karton. Man nähert sich der Sache langsam an. Für "Tip Ton" haben wir mehr als hundert Prototypen gebaut, bis wir zur Lösung kamen.

DER STANDARD: In einem Buch über Ihre Arbeit, das vor kurzem erschienen ist, kann man Rolf Fehlbaum auf einem frühen Prototyp sehen. Er sitzt auf einer Struktur, die aber nicht viel mit dem fertigen "Tip Ton"-Stuhl gemein hat. Wie kommt das?

Osgerby: Wir hatten einen "Air Chair" von Jasper Morrison zerlegt. Wir wollten unseren Stuhl schon immer aus Kunststoff bauen, zuerst aber schwebte uns ein Freischwinger vor. Vorgesehen war ein beweglicher Sitz, der mit einer Hinterbeinstruktur verbundenen sein sollte, auf der die Last zu ruhen kommt. Aber uns wurde klar, dass der Kunststoff dabei ermüden und brechen würde ...

DER STANDARD: ... wie es vor vielen Jahrzehnten schon Verner Panton mit der ersten Version seines "Panton Chairs" passierte?

Osgerby: Ja, das ist richtig. Und der "Panton Chair" war der einzige Stuhl, der komplett aus Kunststoff ist, den Vitra bisher gemacht hatte.

Barber: Aber selbst der "Panton Chair" hat keine beweglichen Teile. Nutzt man Kunststoff, um bewegliche Teile zu bauen, wird das immer schiefgehen. Es kann die Belastung nicht aushalten. Ein Metallrohr hält damit verglichen ewig. Wir aber wollten einen beweglichen Stuhl. Unsere Idee konnten wir also vergessen.

DER STANDARD: Und dann?

Barber: Zu Kunststoff gab es keine Alternative, denn wir mussten die Kosten niedrig halten und einen Stuhl entwerfen, der praktisch nicht zu zerstören ist. Also wollten wir nicht verschiedene Bauteile, sondern ein einziges Stück, möglichst aus einem Material. Am Ende mussten wir das Design verändern, da unsere Ursprungsidee nicht funktionierte.

DER STANDARD: Am Bauhaus in Dessau wurde in den 1920er-Jahren die Vision des Sitzens auf einer Luftsäule formuliert. Den Freischwinger aus Stahlrohren sah man bestenfalls als ersten Schritt zur Verwirklichung dieser Utopie. Spielt ein solcher Gedanke für die Entwicklung eines neuen Stuhls heute noch eine Rolle?

Osgerby: Eine der größten Herausforderungen dieses Projekts war es, die Struktur visuell wie physisch so stark wie möglich zu machen und gleichzeitig so dünn wie möglich. Der Stuhl besteht aus Glasfasern und Polypropylenkunststoff. Zuerst wird der Kunststoff in die Form gespritzt und dann heißes Gas. Das Gas verdrängt den Kunststoff, und eine hohle Struktur entsteht. Insofern sind wir wieder bei Ihrer Frage von vorher: Das ist die große Leere, umgeben von einer äußerst stabilen Struktur. (Thomas Edelman/Der Standard/rondo/13/05/2011)