"Kanaval. Vodou, politics and revolution on the streets of Haiti" - Photography and Oral Histories by Leah Gordon. Words by Madison Smartt Bell and Don Cosentino (among others). Soul Jazz Publishing, London 2010

Foto: Soul Jazz Records

Mit dem Buch Kanaval - Vodou, Politics and Revolution on the Streets of Haiti und den dazugehörigen 3 CDs, Rara in Haiti: Street Music in Haiti, Spirits Of Life: Haitian Vodou und Voodoo Drums, legt das kleine, feine Londoner Musiklabel Soul Jazz Records sein bisher ambitioniertestes und populärwissenschaftlich seriösestes Projekt vor. Die zum Teil verstörenden Fotos, die der Bildband zu bieten hat, werden von fundierten Essays über den Karneval auf Haiti ergänzt, wobei auch die Bedeutung der Voodookultur für die Geschichte und Politik des Landes untersucht wird.

Nachdem das im noch immer schicken Stadtteil Soho gelegene Label bereits im Vorjahr mit der Buch-CD-Kombination Dancehall - The Rise of Jamaican Dancehall Culture erfolgreich darum bemüht war, der weltweit treuen Stammkundschaft klarzumachen, dass es bei Soul Jazz Records nicht nur darum geht, billig eingekaufte Lizenzen alter jamaikanischer Reggaetitel, speziell Produktionen von Studio One und Joe Gibbs, gewinnträchtig in schönen CD-Schubern zu vermarkten, sieht man jetzt den Masterplan. Mit Schwerpunkt Karibik dokumentiert man auf Samplern wie der Dynamite!-Reihe nicht nur speziell die jamaikanische Musik als zentralen, die heutige Popmusik bis hinein in den Techno mit den Techniken des Dub dominierende Kultur. Sprich: Ohne Reggae und Dancehall und Dub keine zeitgenössische DJ-Kultur. Punkt.

Weitere Veröffentlichungen des hauptsächlich um schwarze Musiken kreisenden Labels beschäftigten sich etwa mit im New York der 1970er-Jahre hochgekochter Salsa namens Nu Yorica! oder der brasilianischen Musikrevolution des Tropicalismo. Mit dem Sampler Saturday Night Fish Fry: New Orleans Funk and Soul schaute man in der Gründerstadt der US-Popkultur vorbei und veröffentlichte alte kubanische Musik ebenso wie vergessene Perlen der Disco-Ära, New Wave aus Brasilien, britischen Jazzrock der gnadenlosen Sorte und New Yorker Lärmmusik aus jener Zeit, als Sonic Youth tatsächlich noch jung waren und Arto Lindsay und Lydia Lunch noch die Gitarren hackten, ohne einen einzigen Akkord spielen zu können.

Besonders verdient gemacht hat man sich mit der Sichtung des Werks des früh verstorbenen New Yorker Cellisten, Songwriters und Disco- Visionärs Arthur Russell, ohne dessen Vorarbeiten später die Talking Heads auf Fear of Music und Remain in Light sicher einen weniger schlanken Fuß auf dem afrikanischen Tanzparkett gehabt hätten. Neben der weiblichen Funk-Familie ESG oder dem närrischen britischen Reggae- und Dub-Anarchisten Mark Stewart und zeitgenössischen Dubstep-Produktionen findet man Dokumentationen des politisch bewegten US-Free Jazz der 1960er-Jahre ebenso auf Soul Jazz Records wie zuletzt Deutsche Elektronische Musik. Ohne die experimentellen Sounds von legendären 70er-Jahre-Bands wie Neu! oder Can wäre vieles, speziell für David Bowie, nicht möglich gewesen. (Christian Schachinger, RONDO/DER STANDARD - Printausgabe, 29. Oktober 2010)