Eisklettern ist eine jener alpinen Sportarten, bei denen die richtige Ausrüstung über Leben oder Absturz entscheidet.

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Foto: Hersteller/Hilpold

Widrige Wetterverhältnisse wie hier auf dem Montblanc-Massiv hin oder her:

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Die Kleidung muss Schutz gegen die Unbilden der Natur bieten.

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Der Berg spielt verrückt. Das sagen zumindest jene, die im Flachland zu Hause sind. Zehn Grad Minus, und das Mitte September. Am Abend zuvor gab es 15 Zentimeter Neuschnee, und jetzt ziehen schon wieder dicke, schwarze Wolken auf der französischen Seite des Montblanc-Massivs auf. Für ein paar Sekunden tauchen in der Ferne zwei Gipfel auf, die aussehen, als wären sie umgekehrte Eiszapfen: Aiguille de Midi und Aiguille des Grands Charmoz. Dann sind sie wieder im Nebel verschwunden. Der Berg spielt verrückt.

Von wegen, sagt Jacopo Bufacchi. Auf einer Höhe von 3700 Metern über dem Meeresspiegel sind Schnee und Eiseskälte im Spätsommer keine Seltenheit. Über einem stretchbaren Fleece mit Ellbogenverstärkung trägt er eine neongrüne Primaloft-Jacke mit Windstopper-Schutz. Eine Art Michelin-Männchen der Berge. Kalt ist ihm nicht - und wenn, würde er es nicht zugeben. Schließlich arbeitete Bufacchi an der Entwicklung der Black- Light-Kollektion von Peak Performance mit. Sie ist die Vorzeigekollektion der schwedischen Outdoormarke. Von Bergführer für Bergführer entwickelt - und nebenbei auch für all jene, die Steigeisen Hauslatschen vorziehen.

Fast jede Alpinmarke hat eine solche High-End-Kollektion im Angebot. In ihr werden die neuesten Technologien aus den Häusern Gore, Schoeller oder Polartec verwendet, und fast bei allen arbeiten Alpinisten bei der Entwicklung mit. Sechs Andengipfel über 6000 Meter be-stiegen Bufacchi und seine Mitstreiter in diesem Sommer in der Ausrüstung von Peak Performance. Wo müssen die Hosentaschen sein, damit man in sie greifen kann, wenn man einen Gurt trägt? Wie erleichtere ich es, mit Handschuhen die Kapuze schnellstmöglich zuzuziehen? Und vor allem: Wie vereine ich maximalen Schutz mit minimalem Gewicht?

Eine Wissenschaft für sich

Das ist die Gretchenfrage bei den meisten Herstellern. Um sie zu beantworten, beschäftigen sie ganze Entwicklungsteams, die sich mit den Erkenntnissen der Nanotechnologie genau so auseinandersetzen wie mit den neuesten Modefarben. "Alpinkleidung ist heute eine Wissenschaft für sich", sagt Michael Austermühle, der deutsche Vertriebsleiter der amerikanischen Marke North Face. Für jede Wetterbedingung gibt es eine optimale und eine suboptimale Jacke."

Während man vor zwanzig Jahren noch eine Alpinjacke für den Sommer und eine für den Winter hatte, gibt es heute Soft- und Hardshells, mit Daune oder Primaloft, mit Windstopperschutz- oder ohne, einem Goretex-Innenleben oder auch nicht. "In der Autobranche ist es genauso", erklärt Chris Mannel, Österreich-Geschäftsführer der Outdoor-Marke Salewa. "Man wählt heute zwischen einer Vielzahl von Autoarten, ob Kombi, SUV oder eben einem Sportwagen." Das macht die Auswahl nicht unbedingt einfacher.

Sommer oder Winter sind dabei schon länger keine wirklichen Themen mehr, Alpinkleidung ist nach dem Zwiebelsystem aufgebaut. Es geht um die richtige Kombination unterschiedlicher Schichten. Auf einer Gletschertour wie jene am Montblanc wird man über einer eng an der Haut anliegenden ersten Schicht, die stark atmungsaktiv ist, wahlweise ein Softshell, ein Fleece oder eine dünne Windstopper-Jacke tragen. Die Hard Shell befindet sich für den Fall eines Wetterumschwungs im Rucksack. Sie ist auch bei der Skitour im Winter mit dabei. Das Soft Shell dagegen bei der Fahrradtour im Herbst.

Träger müssen Bescheid wissen

Für den Konsumenten bedeutet das, dass er oder sie ziemlich genau über die Eigenschaften seiner Ausrüstung Bescheid wissen muss - und für die vielen unterschiedlichen Kleidungsstücke auch ganz schön tief ins Börsel greifen muss. "Natürlich freut uns die Ausdifferenzierung von Alpinmode", gibt Austermühle von North Face unumwunden zu. Dass es die Hersteller damit mitunter auch übertreiben, will er nicht bestätigen.

Zudem kommt, dass ästhetische Fragen immer wichtiger werden. Zu den ersten Marken, denen das bewusst war, gehört Peak Performance. Die Jacken sind bei dem Label aus Stockholm streng tailliert, die Farben gehen mit der Mode. Mittlerweile kann sich Kartoffelsackschnitte keine Marke mehr leisten, ein Kleidungsstück, das sich der Mode widersetzt, wird nicht mehr gekauft. Zum Beispiel Fleeces: Erst seitdem ein in alle Richtungen dehnbarer Fleece-Stretch erfunden worden ist und Fleeces mit anderen Materialien kombiniert werden, finden sie wieder Absatz.

Die hohe Anforderungen an die Ausrüstung haben viel mit den sportlichen Anforderungen der Alpinisten selbst zu tun: "Vor 20 Jahren veranschlagte man vier Tage, um den Montblanc zu besteigen", erzählt Bergführer Jacopo Bufacchi "heute sitzt man nach zwei Tagen wieder auf dem Sofa." Ein Kilo mehr auf dem Buckel oder am Körper bedeutet, 1000 Schritte mehr machen zu müssen. Mit Steigeisen an den Füßen kann das ganz schön kräftezehrend sein. Wenn dann auch noch die Kleidung nass (und schwer) wird, kann der Gipfel schnell in weite Ferne rücken - und mit ihm natürlich auch der Gipfelsieg. (Stephan Hilpold/Der Standard/rondo/15/10/2010)