Die Schokoladeerzeugung ist Krieg respektive Ringen um Vollendung.

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Heißhunger. Ich habe Heißhunger auf Schokolade, und zwar seit meiner Kindheit. Die bunten Schleifen der Bensdorp-Riegel, das feenhafte Silberpapier, das Klacken beim Abbrechen auf der Tischplatte, der kurze Blick auf die Bruchlinien - immer neu, immer anders, immer herrliches Vorspiel -, dann haltloses Verschlingen.

Ich weiß nicht, ob es die Methylxan-thine sind, das Coffein oder das Theobromin in der braunen Masse, es ist mir, ehrlich gesagt, auch egal. Ich bin ein Junkie, seit ich denken kann. Für mich gilt in Sachen Schokolade kein kategorischer Imperativ, keine strafrechtliche Schranke, kein moralisches Bedenken. Ich kann, sehr geehrte Damen und Herren Geschworene, meine Taten nicht rechtfertigen, sondern nur um Verständnis für einen Süchtigen und seine vertrackte Existenz bitten. Für einen wie mich ist Tim Burtons Charlie und die Schokoladenfabrik nicht eine surrealistische Märchenverfilmung, sondern Cinéma vérité, Einschau in meine Lebenswirklichkeit.

Willy Wonka der obersten Kategorie

Das Walhalla, das Xanadu der Kindheit liegt in der Schweiz - zum Beispiel in Vevey am Genfer See. Ebendort, wo zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Milchschokolade erfunden wurde, hat ein Willy Wonka der obersten Kategorie seine Zelte aufgeschlagen. Die Konditorei Poyet liegt zwischen See und Bahnhof in der Rue du Théâtre. Monsieur Poyet selbst ist Künstler mit vom Stress fein geschliffenen Zügen. Die Schokoladeerzeugung, so wird nach wenigen Augenblicken klar, ist Krieg respektive Ringen um Vollendung. "Der Tod ist im Leben des Künstlers nicht das Schlimmste", notierte Picasso, und wahrscheinlich hatte er Poyet vor Augen. Hinter dem Gastraum liegt das Atelier, und nichts geschieht hier zufällig. Poyets Genre sind Pralinen, visuelle und olfaktorische Skulpturen.

Die Kakaobohnen des Chocolatiers kommen aus entlegenen Anbaugebieten in Java und Venezuela, Poyet erhält die Grundmasse, sozusagen die Pigmente seiner chocologischen Experimente, in Form von sortenreinen Schokopastillen, die zuvor durch Rösten, Mahlen und Conchieren zentral erzeugt wurden.

Gestalt und Geschmack der Pralinen werden stets einem Thema unterworfen. Die Praline etwa zu Ehren des Dalai Lama entfaltet einen Hauch grünen Tees - den man erahnen könnte, wäre man mehr als ein elender Fresssack vom Balkan - neben dem "exotisch-tibetischen Geheimnis", den der Durchbiss in die Fülle vermittelt. Die goldenen Farbtupfen an den Ecken erinnern an die buddhistischen Yanas bzw. an die Yungdrung Bön, an Yin und Yang. Der Künstler, so erkennen wir, hat weitläufig recherchiert. Die Praline zur Fußball-Weltmeisterschaft ist dann einfacher ausgefallen. Hier nach dem Preis zu fragen, hätte den Abbruch des Gesprächs zur Folge.

Milch statt Milchpulver

Sein Meisterstück gelang Meister Poyet mit einer Praline zum 500. Geburtstag von Johannes Calvin aus Genf, ausgerechnet Calvin, der Mitbürger schon für lässlichere Sünden in Flammen hat aufgehen lassen. Es ist ein herbes, fast ironisches Stück geworden. Freilich: Auch die Poyet'sche Kunst geht nach dem Brote. Das Überleben sichern hübsch verpackte Schokoladeschuhe von Charlie Chaplin in unterschiedlichster Größe. Manche kann man im Ganzen verschlingen, an anderen müssen selbst Typen wie ich eine Zeitlang nagen. Von einem ganz anderen Kaliber als die alchimistische Künstlerwerkstatt von Poyet ist Cailler. Die traditionellste aller Schweizer Schokoladefabriken liegt eine halbe Autostunde von Vevey entfernt in Gruyère, einer malerischen Gegend mit Schloss und Baum und Wiese und Kuh. Cailler arbeitet mit frischer Milch aus der Region anstatt mit Milchpulver. Man sei stolz, so Thomas Tschour von Cailler, "alle Milchkühe mit Namen zu kennen." Fast möchte man frech fragen, ob dem Erzeuger auch alle Kakaobohnen namentlich bekannt sind.

Zwar hat die belgisch-französische Schmutzkonkurrenz in den letzten Jahren am Schweizer Choco-Image genagt wie Hänsel am Knusperhäuschen, aber die Marke Cailler produziert fast ausschließlich für den nationalen Markt. Und der ist groß genug: Rund 13 Kilo Schokolade absorbiert der Schweizer pro Jahr, laut Statistik ein internationaler Spitzenwert. Pünktlich zu Ostern eröffnet in der Maison Cailler eine Schokoladenwelt. Man hat eine eigene Produktionsstraße errichten lassen, eine Art Schokolade-Minimundus, in der man das Entstehen eines frischen Branchli miterleben kann. Das Café ist im eleganten Clooneybraun gehalten, nicht ganz zufällig, denn Cailler gehört wie Nespresso zum Nestlé-Konzern. Im Atelier du chocolat werden Kurse angeboten, und eine History-Show führt im Eilschritt durch die Geschichte vom aztekischen Xocolatl bis zum Firmengründer François-Louis Cailler, der 1819 die erste mechanische Schokolade-Manufaktur eröffnete. Dass die Versüßung des europäischen Lebens auch eine triste Kolonialgeschichte aufzuweisen hat, die fortwirkt und die selbst dem hartgesottenen Junkie Zurückhaltung auferlegt, wird wohl nicht ganz so deutlich zu sehen sein. Die letzte Station ist der Shop, das Sortiment an Tafeln, Napolitains und Pralinés ist grenzenlos. Man rechnet mit mehr als 200.000 Besuchern, der Eintritt für Kinder ist frei. (Ernst Strouhal/Der Standard/rondo/02/04/2010)