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Von der "schäusslichsten Wildnis" zum Tourismusmagneten entwickelte sich Saas-Fee im Saastal.

Unendlicher Quell der Inspiration ist die Schweiz für Literaten. Ihre Präsenz, oder zumindest die Erinnerung an sie, ist landauf, landab eine image- wie nächtigungsträchtige Sache: Sils Maria punktet mit Nietzsche, Davos mit Thomas Mann und Klabund, die Rigi erinnert auf jedem Höhenmeter an Mark Twain, Zürich lockt mit Joyce, Montreux kontert mit Nabokov.

Zwischen Raclette und Alpin Express führt der kleine Ort Saas-Fee im Wallis Carl Zuckmayer (1896-1977) ins Treffen. Auf der Flucht vor den Nazis war Zuckmayer in die Schweiz gekommen, 1957 erwarb er ein Haus am Ende des Saastales und wurde vom Gemeindeparlament sogar zum Ehrenbürger ernannt.

Das 1800 Meter hochgelegene Saas-Fee war damals nur über einen Eselspfad erreichbar, über Jahrhunderte ein bettelarmes Bauern- und Handwerkerdorf mit ein paar Holzhäusern im Walliser Stil, Vieh und einem bedrohlichen Gletscher. Die einzige Unterkunft war das Pfarrhaus. 1778 nannte der Berner Reisende Siegmund Gruner in seinen lesenswerten Reisen durch die merkwürdigsten Gegenden Helvetiens die Berge der Vispertäler "die schäusslichste Wildnis der Schweiz", man betrete das "schweizerische Grönland". Den Botaniker Murith, Prior vom Großen St. Bernhard, erfassten 1803 in Saas noch "unwillkürliche Schauer angesichts dieser wilden Gegend, dieser Zerrüttung in der Natur". Der Wanderer glaubte, "das innerste Gerippe des Gebirges zu erblicken" und schreckte verängstigt zurück.

Man spricht Russisch

Seitdem hat sich einiges verändert, der Blick auf die Bergwelt, das Urteil und die Zahl der Besucher. Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten englische Alpinisten das fantastische Bergpanorama für ihre exzentrischen Interessen, 1950 eröffnete die Autostraße, 1990 das mehrstöckige Parkhaus am Ortseingang.

Wiewohl man stets mit Eifersucht auf die große, unerbittliche Schwester Zermatt im Nebental blickt, so zählt das schneesichere Saas-Fee immerhin 820.000 Logiernächte pro Jahr. An einzelnen Tagen pumpt sich das Dorf auf das Zehnfache seiner Einwohnergröße auf. Die Gäste kommen aus ganz Europa, aus den USA und aus Asien. Man spricht Französisch und Deutsch, Englisch und immer häufiger fließend Russisch. Die Fremden werden zu gleichen Teilen in Hotels und Appartementhäusern untergebracht, die "Bärgsunna" heißen, "Kontiki" oder "Orion" und deren Rollbalken drei Viertel des Jahres heruntergerollt sind. "Kalte Betten" nennt man das, und man gedenkt, sie in Zukunft zu verbieten.

Wie Zermatt ist Saas-Fee autofrei, kleine Caddies, die "Elektros", rollen ökologisch korrekt durchs Dorf, eine Alpin-Metro, die höchstgelegene der Welt, fährt die Skifahrer von der unteren Gletscherzunge hinauf zum Allalin auf 3500 Meter Höhe. Bei guter Sicht sind die Lichter von Mailand zu sehen, vom Drehrestaurant aus.

Heubündel ade

Bei aller Technisierung der Auf- und Abfahrten: Die Moderne hat sich spät Zutritt in das Walliser Dorf verschafft. 1970 war ein Wendejahr in seiner Geschichte. In diesem Jahr verkaufte, vermerkt die Dorfchronik, der Burgener Josef den letzten Stier, danach wurde nur noch künstlich besamt. Im gleichen Jahr hatte zum letzten Mal eine Frau "giburdinut", das heißt, das 50 Kilogramm schwere Heubündel auf ihrem Kopf in die Scheune getragen, so wie es bislang Brauch war. In diesem Jahr, konstatierte man, wurde unterhalb der Hohen Stiege kein einziger Acker mehr angepflanzt und das Frauenstimmrecht eingeführt. Und noch etwas vermerkt die penible Chronik: Am 23. September 1970 gelangten vier Tonnen Steuerakten nach Saas-Fee, wo sie unter Aufsicht in der Kehrrichtverbrennungsanlage vollständig verbrannt wurden. Die Moderne hatte Saas erreicht und die Gespenster der Geschichte von den Schultern der Bewohner genommen, unwiderruflich, wenn auch nicht ganz vollständig.

Das Urdorf Saas-Fee hatte eine bewegte Geschichte, es war keltisch, dann römisch, burgundisch, im 10. Jahrhundert siedelten sich Araber im Tal an. Noch heute deuten einige der mächtigen Namen wie Allalin oder Amagel, Mischabel und nicht zuletzt der Ortsname Saas-Fee selbst auf die sarazenischen Ursprünge der Besiedlung. Das ist eine Zeitlang her, und so stimmte der Ort im Vorjahr in helvetischer Eintracht für das Minarettverbot, quasi sicherheitshalber, denn der Ruf des Muezzin schallt nur selten über den Gletscher.

Nichts schallt oberhalb des Dorfes. Es herrscht heilige Stille. Weiter oben betreiben Mary und Peter Lomatter die Mischabelhütte, den letzten Vorposten der Zivilisation auf 3380 Meter. Die Hütte ist Ausgangspunkt für Touren auf die Lenzspitze bis zum Dom, dem höchsten Berg auf Schweizer Grund.

Die Hütte ist vom Ort gut sichtbar und dennoch nur schwer zu erreichen. Die Lomatters bleiben von Juni bis September oben. Manchmal, wenn das Wetter nicht hält, sind sie zwei Wochen allein auf ihrer Hütte. Sie blicken wie von einer Raumstation aus hinunter auf den Ort, wo die Freunde und Kinder leben. Personal ist schwer zu bekommen, erzählen die Lomatters, viele Deutsche bewerben sich, aber sie gehen rasch wieder. Man muss schwindelfrei sein und jeden Tag Eis vom Gletscher holen.

Nach der Saison, wenn keine Gäste mehr zu erwarten sind, reisen sie selbst gern. Lomatter ist Österreichkenner, bis Salzburg kennt der Bergführer jedes Tal, er fährt ungern ins Ausland, aber "Österreich ist nicht Ausland". Einmal wollten sie in die slowenische Bergwelt fahren, aber er hat sich's dann anders überlegt, lacht seine Frau Mary: Auf dem Weg nach Kranjska Gora ist der Lomatter kurz vor dem Tunnel einfach nach Villach umgekehrt und zurückgefahren - bis nach Hause. (Ernst Strouhal/Der Standard/rondo/26/03/2010)