René Redzepi (rechts) im Kreise seiner Noma-Küchenmannschaft.
Die langen Stangen sind jene Teile des Rohrkolbens - einer Wasserpflanze -, die unter der Oberfläche wachsen. Sie schmecken saftig, zart und ein wenig nach Gurke.

Foto: Per-Anders Jörgensen

Hummer mit roher Taubenleber, ...

Foto: Per-Anders Jörgensen

...Rohkost im Blumentopf.

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"Cook it raw" ist als gastronomischer Think-Tank für Spitzenköche konzipiert.

Foto: Per-Anders Jörgensen

Das nächste Treffen soll im baskischen San Sebastián stattfinden.

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Die sind seither überzeugt, dass Redzepis "Noma" das tollste Restaurant der Welt sei :

Vor dem Klimagipfel lud der als neuer Überkoch gefeierte Däne René Redzepi seine liebsten Kollegen nach Kopenhagen, um über Kochen und Nachhaltigkeit nachzudenken. Die sind seither überzeugt, dass Redzepis "Noma" das tollste Restaurant der Welt sei. Severin Corti war dabei und glaubt das auch

In der Küche des Noma herrscht an diesem Abend besonders emsige Betriebsamkeit. Dabei wird heute nicht gekocht, nicht im klassischen Sinn zumindest. Zu essen gibt es trotzdem. Und wie.

Der als Koch-Wunderkind gefeierte Hausherr René Redzepi hat elf seiner liebsten Kollegen aus nah und fern nach Kopenhagen geladen. Wie es der Zufall will, sind es fast durchwegs multipel michelinbesternte Avantgardisten.

Schillernde Figuren

Ferran Adriàs Bruder Albert zum Beispiel, der legendäre Partner und Patissier im "El Bulli", der gerade an einem neuen Projekt in Barcelona feilt. Oder der Pariser Pascal Barbot, der im "L'Astrance" eine ebenso entspannte wie spannende Dreisternküche bietet. Aus London sind der für seine ätherischen Kompositionen gefeierte Franko-Londoner Claude Bosi ("Hibiscus") und Ichiro Kubota gekommen, der in Kioto gelernt hat, was er im "Umu" an japanischer Extremküche präsentiert. Aus Modena ist der italienische Techno-Kochwunderknabe Massimo Bottura ("La Francescana") da, aus New York der als wilder Hund verschriene US-Koreaner Dave Chang ("Momofuku") – schillernde Figuren zuhauf, die jede auf ihre Art versucht, der alten Tante "Haute Cuisine" frischen Wind unter die Segel zu fächern.

Gemeinsam verbringen sie zwei Tage in Dänemark, um am Strand und in den Wäldern nach Kräutern und Gräsern zu suchen, mit Sammlern und Produzenten zu sprechen – und am Abschlussabend gemeinsam ein Menü zu bestreiten, bei dem jeder einen Gang beisteuert.

Elf Köche, elf Gänge – die eines gemeinsam haben sollten: in dem einen oder anderen Sinne möglichst roh zu sein. Die Induktionsherdplatten, Dampf- und Vakuumgarer, die Salamander und Wasserbäder, Pacojets und Trockeneis-Maschinen – überhaupt das ganze Arsenal an Hochtechnologie, ohne das eine Sterne-Küche wie jene des Noma nun einmal nicht auskommt: Es soll an diesem Abend weitgehend ungenutzt bleiben.

"Cook it raw" lautet das Motto der Veranstaltung, die Redzepi gemeinsam mit Alessandro Porcelli, einem aus Triest gebürtigen Spezialisten für Kulinarik-Events neuer Prägung, auf die Beine gestellt hat. "Wir wollten eine Art Think-Tank schaffen", erklärt Redzepi, "Spitzenköche zum Nachdenken darüber anregen, ob und wie Kreativität aussehen kann, wenn der Technik-Klimbim einmal ausgeklammert bleibt. Ich habe das Gefühl, dass es viel zu entdecken gibt, wenn moderne, kreative Geister einmal ganz unmittelbar in die Natur eintauchen."

Protestantische Bescheidenheit

Wohlgemerkt: Redzepi ist alles andere als ein Traditionalist, er hat zwei Jahre bei Ferran Adriá dessen "Tecno emoción"-Küche im El Bulli verinnerlicht. Im Noma aber kommen die Denaturierungs-Techniken aus den Labors des ziemlich offiziell besten Restaurants der Welt nur in homöopathischen Dosen zum Einsatz.

Redzepis eigentliche Neuerung ist die Wiederentdeckung traditioneller skandinavischer Lebensmittel, die im Wohlstandsrausch der vergangenen Jahrzehnte in Vergessenheit geraten waren. Ihnen widmet er seine kreative Kraft und Aufmerksamkeit. Einen besonderen Platz nehmen dabei Wildpflanzen der nordischen Vegetation ein, die einst selbstverständlich genutzt, deren spezifische Geschmacksqualitäten aber vergessen wurden. Flechten und Moose, Knospen, Beeren und Pilze, Wildgemüse wie Strandkohl, Algen und scharfwürzige Gräser sind dabei zentrale Angelpunkte.

Oft kommen dabei Gerichte von spöttisch wirkender Bescheidenheit heraus – etwa ein Teller mit Gurkenmilch, Linden- und Fichtensprossen sowie ein paar grünen (gleichwohl süßen) Erdbeeren, die mit rauchigem Hühnerjus umkränzt sind. Die schnörkellose Eleganz der Darbietung bezaubert auch skeptische Luxuskonsumenten alter Prägung: Hier wird Geschmack, wird die Freude am Essen und Entdecken in höchst kunstvoller, gleichwohl spielerisch leichter und niemals prätentiöser Form gefeiert.

Klar dürfen es auch fleischige Messermuscheln von der Nordsee sein, die an vielen Stränden zur Plage werden, weil ihre besondere Delikatesse von den Dänen nicht mehr erkannt wird; oder Moschusochsen aus Grönland, Schneehühner und Königskrabben aus Norwegen, flache Austern aus dem Limfjord. Redzepi sichert seine Versorgung mit solch außergewöhnlichen Zutaten durch ein Netz aus Sammlern, Fischern und Jägern, die ihn mit ihrer Beute beliefern. Die lässig hingeworfenen Kompositionen, die er daraus formt, sichern ihm eine luxuriöse Sonderstellung in der dichtbesetzten Riege der Spitzenköche mit globalem Einfluss.

Workshop für Eliteköche

Nicht zufällig haben jene fünfzig besten "Chefs" der Welt, die es auf die ebenso einflussreiche wie fragwürdige Liste des britischen Restaurant Magazine geschafft haben, Redzepi in einer internen Rangfolge zum tollsten Koch der Gegenwart gewählt. Wenn es nach Adriá, Ducasse und Konsorten geht, dann zeigt Redzepi dem Rest der Welt, wohin sich die Hochküche entwickelt. Das Koch-Happening von Kopenhagen darf also auch als Workshop für Eliteköche verstanden werden, die sich für den nächsten Megatrend fit machen.

Gerade zur rechten Zeit: Im anglo-amerikanischen Gastrofeuilleton wird der neue "Super Natural"-Stil, der im Noma entwickelt wurde, bereits erwartungsfroh herbeigeschrieben. Insofern lag es nahe, die Weltaufmerksamkeit anlässlich des Klimagipfels in Kopenhagen auch ein wenig in diese Richtung zu lenken. Die Küche des Noma ist dafür wie geschaffen.

Redzepis Konzept von "nordisk mad" (Nordisches Essen) – der exklusiven Verwendung rein und typisch skandinavischer Zutaten, soll natürlich auch ein Signal für Nachhaltigkeit sein. Es gibt weder Olivenöl noch Tomaten, weder Sojasauce noch Wein (außer auf der Weinkarte, in exquisiter Auswahl) – die Küche muss sich auf Autochthones beschränken.

Für "Cook it raw" galt die zusätzliche Restriktion, mit minimal konventioneller Energie auszukommen, ohne deshalb "zurück zur Natur" zu regredieren. "Interessant ist doch, in und mit der Natur vorwärts zu gehen", sagt Iñaki Aizpitarte, der baskisch französische Küchenchef des Pariser Über-Bistros "Le Chateaubriand". "Das bedeutet, Neues zu wagen, mehr auf Frische und den ureigenen Geschmack der Zutaten zu fokussieren als auf Technik und Technologie." Was der als Küchen-Popstar gefeierte, gleichwohl betont scheue Autodidakt sich darunter vorstellt, sollte er in seinem Gang darlegen: Roh aus dem Panzer gebrochene Hummerzangen mit Waldsauerklee und einer Creme aus roher Taubenleber – völlig verstiegen, aber von makelloser Eleganz, ja Raffinement.

Redzepi-Gang

Gleich zu Beginn aber ist ein typischer Redzepi-Gang an der Reihe: junges Gemüse, so überraschend und eingängig präsentiert, dass der kleine Gang längst zum signature dish dieses so außergewöhnlichen Restaurants wurde. Es wird in einem Blumentopf aufgetragen, bei dem oben ein paar Radieschen und Karotten samt Grün und die eine oder andere Spargelspitze aus der Erde schauen. Aber was für Radieschen! Und was für Erde! Die schwarzen Brösel sind eine Mischung aus Nüssen und gemälztem Getreide, die tagelang bei kontrollierter Temperatur erst getrocknet, dann geröstet wird: kraftvoll, knusprig, süß und von zarter Bitternis – ganz was Neues. Darunter ist eine tiefgrüne Emulsion aus kaltgepresstem Rapsöl und Kräutern (vor allem Estragon) versteckt, die mit dem Gemüse aufgetunkt wird, wobei ordentlich Röstknusper hängenbleibt – eine einfache Idee, amüsant und virtuos ausgeführt (Bild unten rechts).

Gemüse spielt in vielen Noma-Kompositionen inzwischen die Hauptrolle. Und es ist durchaus kein Zufall, dass gerade diese scheinbar einfachen Gerichte ganz besonders aufregend schmecken. Ein Teller mit gestockter Rohmilch etwa, in der allerhand junge, rohe Wurzeln stecken, nur mit zarter Bratensaft-Reduktion und ein paar fleischigen Stachelbeeren akzentuiert: Aus wenigen, protestantisch bescheidenen Zutaten schafft Redzepi eine auch optisch hinreißende Komposition, die archaische Tradition mit einer ganz zeitgenössischen Idee vom Essen vereint.

Danach aber hält Redzepi sich zurück, um seinen Gästen nicht die Show zu stehlen. Und was für eine Show! Als erster serviert Ichiro Kobuta Limfjord-Austern mit einem Dressing aus der japanischen Zitrusfrucht Yuzu, die die versammelten Esser kurz verstummen lässt: So wild, wie Meeresfrische da am Gaumen explodiert und dank der schillernden Exotik der Frucht sogleich wieder in erdnahe Gefilde gezähmt wird – das lässt einen glatt erschaudern vor Glück und Genuss.

Dieses Essen macht euphorisch

Dass rohe Meeresfrüchte eine Kraft entfalten, die über den schieren Genuss hinausgeht, lässt sich auch bei jenem Gang studieren, den Massimo Bottura aufträgt. Der Kochextremist aus Modena mag bescheiden wirken, wie ein braver, norditalienischer Mittelständler sieht er mit Hornbrille und Kaschmir-Pulli aus. In seinen Kreationen aber wird eine provokante Energie spürbar, die man bei Köchen nur selten erwarten darf. "Pollution" nennt er seinen Gang – eine kalte, zart gelierte Suppe, die nicht zufällig an Brackwasser erinnert, wie man es aus Industriehäfen kennt – bis hin zu einem schillernden Ölfilm, der oben schwimmt. "Ich habe gelesen, dass die Ozeane in 40 Jahren tot sein können. Mein Gericht soll ein Nachgeschmack sein auf das, was wir verlieren werden", erklärt er. Es kostet durchaus Überwindung, zu kosten. Aber dann: Aus Algen und rohen Tintenfischpartikeln, aus Seeigel-Rogen und ausgelösten Austern, aus Austernwasser und Seeteufel-Leber entsteht ein Geschmacksbogen von unendlicher Frische und Reinheit.

Nach elf Gängen, die allesamt von biodynamischen Weinen begleitet werden, ist schon so etwas wie Euphorie im Raum zu spüren. Bei den Gästen, weil das Essen so phänomenal anders geschmeckt hat: zart und doch intensiv, luxuriös und doch nachhaltig. Bei den Köchen, weil sie ein Wochenende unter Kollegen verbracht haben, an dem tatsächlich etwas Neues entstanden sein könnte: eine Küche, der das Prinzip Nachhaltigkeit ebenso wichtig ist, wie die Suche nach dem nächsten Kick. Und weil die Köche, wie Claude Bosi sagt, neue Grundprodukte kennengelernt haben, von denen die meisten keinen blassen Schimmer hatten, "obwohl sie direkt vor der Haustür wachsen: wilde Kräuter, unbekannte Wasserpflanzen – ein Universum neuer Eindrücke".

Redzepi, der neue Kochgott aus dem Norden, bleibt bescheiden, wie es sich für einen Dänen gehört: "Unsere Zukunft als Köche hängt ganz eng mit dem zusammen, was die Franzosen Terroir nennen. Was gibt es Spannenderes, als die Seele eines Ortes in ein Gericht zu packen?" (Severin Corti/Der Standard/rondo/04/12/2009)