Dass der Karneval von Binche zum immateriellen Kulturerbe gezählt wird, ist in Belgien kein Zufall. Darbietungen, bei denen kunstvolle Masken und Kostüme eine tragende Rolle spielen, gibt es hier nämlich überdurchschnittlich viele. 

Foto: OPT/Alex Kouprianoff

Die Prozessionen der Riesen und Drachen findet sich ebenfalls auf dieser Unesco-Liste, anerkannt wurde eine überregionale Tradition, die auch in Flandern und in Frankreich noch sehr verbreitet ist. Die Prozession der Riesen von Ath etwa verwandelt die Stadt im Sommer in eine hübsche Bühne für den David-gegen-Goliath-Schaukampf, begleitet wird das Fest von sehr traditioneller, belgischer Küche.

Foto: OPT

Beide Städte, Binche und Mons, besitzen einen historischen Stadtkern, die den Besuch lohnen. Architektonisch herausragend sind dort die Belfriede, die hohen, schlanken Glockentürme. Auch sie zählen zum (klassischen, also materiellen) Unesco-Weltkulturerbe. Eine Besonderheit in Binche ist jedenfalls das (montags geschlossene) Internationale Museum für Karneval und Masken. Darunter darf man sich kein rühriges Heimatmuseum vorstellen, denn die gut aufbereite Sammlung thematisiert eine globale Tradition mit ethnologischem und anthropologischem Hintergrund. Die Geschichte des Karnevals von Binche wird dort freilich dokumentiert.

Foto: OPT

Vom Brüsseler Flughafen ist Binche einfach mit dem Zug in rund eineinhalb Stunden zu erreichen, einmal muss man am Brüsseler Südbahnhof umsteigen. Direktverbindungen mit dem Zug gibt es dagegen nach Mons, in die Hauptstadt der Provinz Hennegau (rund 20 Kilometer von Binche entfernt). An den drei Faschingstagen (heuer: 22. bis 24. Februar) sollte man in Erwägung ziehen, auch dort zu logieren. Die Auswahl an Unterkünften - Frühstückspensionen und historische Anwesen (www.belsud.be) sind in der Region empfehlenswert - und die Chance, dann noch ein freies Zimmer zu finden, ist dort deutlich größer.

Grafik: DER STANDARD

In der Nacht zum Fetten Dienstag, noch ehe die Hähne krähen, kommen die ersten Gestalten auf die Straße und beginnen zu tanzen. Vereinzelt erst, dann finden sie rasch zueinander in ihren kostbaren Leinenkostümen mit Wappenlöwe, Krone und Stern. Schellengürtel tragen sie und plissierte Halskrausen, das Gesicht unter Wachsmasken versteckt, der Backen- und Kinnbart und die grüne Brille sind aufgemalt.

Niemals würde ein Gille - so nennt sich diese Gestalt - seine Maske, sein Kostüm an einem anderen Tag im Jahr oder an einem anderen Ort vorführen. Lebendig ist der Gille nur in der kleinen Tuchmacherstadt im belgischen Hennegau. Auf keiner Messe war er zu sehen, auf keiner Folkloreschau würde er sich jemals zeigen. Er ist es, der auf diese Weise den Karneval von Binche zu einem der letzten großen in Europa macht, der vom Nepp nichts hält.

Bis zu sechs Wochen lang widmet man sich dem Fasching rund 60 Kilometer südlich von Brüssel im wallonischen Teil Belgiens. Bereits Ende Jänner beginnt ein Großteil der Bürger, Kostüme auf Maskenbällen vorzuführen, die Adaptierung der überlieferten Figuren ist Teil der gelebten Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte.

Fetter Vorgeschmack

Und so tobt bereits an den vier Wochenenden vor den "Fetten Tagen" (also von Faschingssonntag bis -dienstag) ein Vorgeschmack auf das Ritual in den Gassen von Binche. Die Bincher, die immer nur am Fetten Dienstag in der Maske eines Gille die Hauptakteure des wallonischen Karnevals sind, ziehen jetzt unter grollendem Trommelwirbel durch den Ort - noch ohne Kostüm und ohne Maske. Hinter ihnen kommen die "Soumonces", die Trippler. Glocken haben sie umgebunden und kleine Besen in den Händen, mit denen sie im Takt das Pflaster kehren.

Nur einmal im Jahr tragen die Gestalten des Gille die jahrhundertealten Kostüme und die mehr als einen Meter hohen Federbüsche. Dieser auftrittsscheue Gille ist es denn auch, der die Unesco bereits 2003 veranlasst hat, den Karneval von Binche zum immateriellen Kulturerbe zu erklären. Als einzigen in Europa, denn sogar den Karneval von Venedig sucht man auf der im November 2008 ratifizierten und damit wirksam gewordenen "Repräsentativen Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit" vergeblich.

Ein Erbe soll dabei geschützt werden, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, das von Gemeinschaften in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, ihrer Interaktion mit der Natur und ihrer Geschichte fortwährend neu geschaffen und vermittelt wird. Das betrifft freilich auch die Interpretation der Herkunft der Figuren.

Ein ganz besonders hartnäckiger Gründungsmythos verweist nach Südamerika, genauer gesagt: nach Peru. Von dort sollen die in Europa einmaligen mächtigen Federbüsche, die der Gille auf dem Kopf trägt - bis zu 300 Stück sind das -, zur Zeit der spanischen Niederlande, zu denen Südbelgien damals gehörte, nämlich gekommen sein. Maria von Ungarn, die Schwester Karls V., organisierte 1549 in Binche ein sieben Tage dauerndes rauschendes Fest. Die auf dem Fest anwesenden spanischen Höflinge (viele von ihnen haben übrigens den Vornamen Gil getragen) sollen sich eben mit wallenden Federbüschen als Inkas verkleidet haben - um an die "glorreichen" Siege in Südamerika zu erinnern.

Anthropologen sehen in der Figur des Gille hingegen die Gestalt des wiederkehrenden Frühlings noch aus heidnischer Zeit. Zudem ist die Existenz des Karnevals von Binche in dieser Form und unter diesem Namen bereits seit dem Jahr 1395 verbrieft - als wahrscheinlich gilt somit, dass die Figur des Gille noch viel älter ist.

Wilder Straußenwalzer

Am Nachmittag des Faschingsdienstags legt der Gille die Anonymität der Maske ab - und den wallenden Federhut an. Jetzt erst wogen sie überall, die mächtigen weißen Straußenfedern. Und ein jeder Gille, der sich zuvor wochenlang vorbereitet hat auf diese Stunde, beginnt nun seinen ureigenen Maskentanz zu tanzen. Die Bewegungen, erst noch verhalten und beherrscht, werden immer wilder, immer schneller und ekstatischer. Hunderte Gilles tanzen nun, berauscht vom Trommelwirbel und vom Trippeln ringsum. Sie scheinen versunken in die dunklen Anfänge dieses Festes, da man tanzte, um Geister und Dämonen zu beschwören, um Not, Elend, Krankheit und Hunger zu vergessen. Aus geflochtenen Körbchen beginnen die Gilles dann, Orangen zu werfen. Die goldenen Äpfel der Hesperiden haben Brauchtumsforscher in diesen Früchten schon sehen wollen, andere wiederum nur Fruchtbarkeitssymbole, die ebenfalls aus Südamerika mitgebracht wurden.

Längst sind die mehr als 100.000 Zuschauer angesteckt vom Takt der Trommeln. Gassen und Plätze werden zum Strom von gleichen Gilles mit gleicher Flussrichtung. Die "Mam'zèles", die Frauen in Männerkleidern, halten ein wenig dagegen, Kolumbinen, Harlekine und Pierrots mischen sich darunter - auch sie zählen angeblich zur Originalbesetzung des Karnevals.

Nur von den Cowboys und Piraten will man das dann doch nicht recht glauben. Aber was soll's: Selbst wenn so ein Fest nach dem Feuerwerk dann streng genommen erst am Aschermittwoch endet: Die Unesco wird ein Auge zudrücken können - wie schon beim Auftritt der Herren mit Augenklappe. (Christoph Wendt/DER STANDARD/Printausgabe/31.01./01.02.2009)