Die Pariser Kanäle teilen gewissermaßen auch die Kunstszene: Nördlich geht's ins Künstler-Reservat "Le 104", südlich zum bunten Wildwuchs von Belleville.

Foto:© MDLF/Michel Angot

In unmittelbarer Nachbarschaft zum Friedhof Père Lachaise bietet das neu eröffnete Mama Shelter Hotel für Pariser Verhältnisse günstige Zimmer (ab EURO 79). Die Inneneinrichtung dieses Budget-Designer-Hotels stammt vom französischen Stardesigner Philippe Starck. Der Zug "Flèche d'Or" (Goldpfeil) fährt zum Glück nicht mehr am Hotel vorbei, aber seinen Namen trägt heute jener Club, der in einer ehemaligen Bahnstation gegenüber vom Hotel untergebracht ist. Dort treten nahezu täglich mehr oder weniger bekannte Rockbands auf.

Foto: mamashelter.com

Kompetente (nur französisch- oder englischsprachige) Führungen zu den Künstlern und in die Hinterhöfe Bellevilles bietet Angénic Agnero. Deutschsprachig und ebenso komplex sind die Paris-Erkundungen mit Wolfgang Friedrich. Wer die Künstler selbst besuchen möchte, sollte vorher Kontakt aufnehmen. Ein Verzeichnis in Belleville tätiger Künstler findet man unter: ateliers-artistes-belleville.org. Das Kunstzentrum Le 104 kann man ohne Anmeldung besuchen.

Foto:104.fr

Informationen:
de.parisinfo.com
at.franceguide.com

Grafik: DER STANDARD

Wenn der Computer einen Maileingang meldet, hüpft sie auf und stürmt zum Monitor. Estelle Ramousse ist nervös. Sie sitzt in ihrer kleinen Hutmanufaktur in der Rue de la Mare und hofft auf den Auftrag für eine Opernproduktion in Nancy. Die letzte Großbestellung liegt drei Monate zurück - und Touristen im Kaufrausch verirren sich nur selten nach Belleville.

Erst langsam beginnen Reiseführer-Verlage ihre Kapitel über dieses Pariser Viertel, das sich über den 19. und 20. und zu geringen Teilen auch über den 10. und 11. Bezirk verteilt, umzuschreiben. Auffallend viele Kunstschaffende leben hier seit den 1980er-Jahren, als etabliert kann man sie aber ebenso wenig bezeichnen wie das Viertel selbst, das bis zu seiner Eingemeindung im Jahr 1860 nicht zu Paris gehörte. Nahezu dörflich ist es geblieben. Und ein Feinkostladen: Allein um die Kirche Saint Jean-Baptiste findet man die Pâtisserie de l'Eglise mit unwiderstehlichen Süßigkeiten und prachtvoller Innenausstattung, eine Bäckerei, die sich als Lieferant des Präsidentenpalasts rühmt, und die Käsemanufaktur "Pascal Beillevaire".

Längst haben die Bobos dieses ehemalige Arbeiter- und Immigrantenviertel entdeckt, und seither steigen auch die Immobilienpreise. Vor allem die Reihenhäuser mit ihren Schrebergärten ähnelnden Oasen, die sich in den Höfen der Gründerzeithäuser befinden, werden einem längst nicht mehr nachgeworfen. Natürlich vollziehen sich solche Änderungen nicht friktionsfrei. Man spüre hier die Spannungen zwischen den Neureichen und alteingesessenen Arbeitern, bestätigt Philomène Gerber. Die Kunstmalerin kennt Belleville seit rund 15 Jahren und ist nur eine von rund 300 Kunstschaffenden, die in Belleville ihre Ateliers haben. Die meisten von ihnen leben in prekären Verhältnissen und werden nur schwer Eingang in den Kanon des globalen Kunstmarkts finden.

Leben nach der Bestattung

Dieser Situation scheint man sich auch im Pariser Rathaus bei der Planung eines "Gemeindebaus für Künstler" bewusst gewesen zu sein: Im Oktober 2008 wurde das bewohnbare Atelier "Le 104" - die Adresse Rue d'Aubervilliers 104 war dabei namensgebend - in einem ehemaligen Schlachthof, der danach fast hundert Jahre als städtisches Bestattungsinstitut diente, eröffnet. Rund 200 Künstler verschiedenster Sparten leben und arbeiten hier auf 39.000 m2, viermal im Jahr werden die Projekte einem breiteren Publikum präsentiert. Zugänglich ist das an sich schon sehenswerte Areal aber permanent, mit den Kreativen ist auch eine adäquate Gastronomie in die ehemaligen Räumlichkeiten der "Pompes Funèbres" eingezogen. Eintritt bezahlt nur, wer "Künstler schauen" will, also eine Führung durch die Ateliers wünscht.

Die meisten frei im Bezirk "schwebenden" Künstler empfangen gegen Voranmeldung auch so Gäste in ihren Ateliers. Darunter befinden sich etwa der Mosaikkünstler Philippe Vignal oder der Bildhauer Michel Fontaine, in dessen engem Atelier Steinskulpturen mit gut ausgesuchtem Ramsch zu einem skurrilen Gesamtkunstwerk verschmelzen. Wer sich klassischer für Öl auf Leinwänden interessiert, sollte Danielle Choukroun in der Rue de la Villette aufsuchen. Danielle und ihre abstrakten Gemälde können bereits auf eine lange Ausstellungsliste verweisen. Keine Voranmeldung ist im Atelier "Dorian Gray", dem Schauraum von Pierre-Louis ("Nenn mich Pedro!") Naty, nötig. Pedro sprüht und druckt die Porträts von Jimi Hendrix, Hannah Arendt, Antonin Artaud oder Sigmund Freud auf alles, was er finden kann: Monitore, Verpackungen, Klodeckel.

Nur ein paar Schritte von Pedros Atelier staunt man dann über "La Forge", die Schmiede: Das Häuserloch mit freistehenden Wände zeigt ein erstaunliches Potpourri aus harten, oft melancholischen, immer knalligen Sujets: Ein Roboter bahnt sich da bedrohlich seinen Weg durch die knallrote Materie und ein ausgemergelter Maler sitzt dort vor der noch blanken Leinwand - auf Eingebung wartend. Street-Art gilt in Paris als etabliert. Es verwundert also nicht, wenn man in Belleville überall auf die Werke anerkannter Fassadenmaler stößt: etwa auf Jérôme Mesnager (weiße, schablonenhafte Figuren), Nemo (rote Luftballons) oder Mosko et associés (vor allem Giraffen).

Häuser ohne Haussmann

Bei einem Spaziergang durch Belleville fällt aber auch die gewachsene Struktur der Straßen und Häuserblöcke auf. Denn das Viertel blieb im 19. Jahrhundert von den umfassenden städtebaulichen Eingriffen durch den von Napoléon III. eingesetzten Stadtplaner Baron Haussmann verschont. Belleville ist nach wie vor eine Stadt in der Stadt, in der sich die Einwohner auf der Straße grüßen. Zusammenhalt ist auch unter den Künstlern zu spüren - etwa dann, wenn der aus Mexiko stammende Raúl in seinem Atelier den alljährlichen "Dia de los Muertos" begeht und sich die Community dort zum Informationsaustausch trifft.

Was man auf einem Rundgang durch das Viertel zu sehen bekommt, hängt aber auch stark von der gewählten Route ab. Wer am Kanal St. Martin beginnt und dem Wasser folgt, nähert sich der Villette und somit auch der Industriegeschichte des 19. Bezirks. Auf den kleinen, steil ansteigenden Straßen im Südosten der Kanäle nähert man sich dagegen Vertrautem: Wer den Hügel des Parc de Belleville erst einmal erklommen hat, staunt über den besten Ausblick der Stadt auf ihre Wahrzeichen.

Vielleicht ist das der Moment, um im nahegelegenen Restaurant "Le Vieux Belleville" den Tag zu beenden. Denn hier kann man ruhig gemeinsam mit den Stammgästen darauf warten, dass sich die Wirtin wieder die Ziehharmonika umschnallt - sie macht das nicht der Touristen wegen. Die Texte der berühmtesten Tochter des Viertels, Edith Piaf, kennen die Gäste hier nämlich noch immer auswendig. (Stephan Burianek/DER STANDARD/Printausgabe/17./18.1.2009)