STANDARD-Ausgabe vom 13. Juni 1994

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Eine Seite 1 wie ein Plakat: Schlagzeile, Riesenfoto, Grafik, sonst nur ein paar kleine Hinweise. Ein großes blaues JA. Solche Titelseiten sind bei Qualitätsblättern selten. Es muss also Spektakuläres passiert sein. Etwas, das alles andere in den Schatten stellt, ein historisches Ereignis. Oder all das zusammen.

Genau das war die Volksabstimmung über den EU-Beitritt. Über diesen war drei Monate zuvor von einer Ministerdelegation mit der EU-Kommission und den versammelten EU-Außenministern in Brüssel sehr hart verhandelt worden. Fast 50 Stunden nonstop, ohne Schlaf. Fast wäre es am Transitvertrag gescheitert. Als die "Helden von Brüssel" - Minister, Sozialpartner, Experten, Journalisten - damals in Wien-Schwechat mit dem Beitrittsvertrag erschöpft aus einer AUA-Sondermaschine wankten, wurde das live im Fernsehen übertragen. Um vier Uhr früh!

Die Emotionen der Bürger waren in EU-Sachen immer groß: Freude bei den einen, die sich über den Weg in den "freien Westen" freuten - auf dem Balkan wüteten noch Bürgerkriege; Ängste bei den anderen, die sich dem Kapitalismus, Internationalismus, Transit, Konsum ohne Grenzen ausgeliefert sahen.

Auch in der Standard-Redaktion wurde heftig das Pro und Kontra debattiert. Am Abstimmungstag kreuzten zwei Drittel der Wähler das Ja zur EU an. Es überwog die Freude so kurz nach den Umbrüchen in Europa, die mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 begonnen hatten. Vielleicht war deshalb die Zustimmung im Burgenland am größten, vor der Steiermark, Kärnten, Niederösterreich.

Heute sind 27 Mitgliedsländer friedlich vereint. Paradoxerweise hat sich das positive EU-Gefühl ins Gegenteil verkehrt. Aber am 12. Juni 1994, da wurde der "Mr. EU" - Außenminister Alois Mock - wie ein Popstar gefeiert. Nach einem Sonderministerrat spazierte er vom Ballhausplatz Richtung Stephansplatz. Zuerst schlossen sich ihm spontan ein paar Leute an, zogen laut jubelnd mit. Auf dem Graben waren es schon hunderte. Berührend. Auf einer vollen Kaffeehausterrasse erhoben sich rund 50 Leute und spendeten Mock stehend Ovationen.

Der war selig: "Jetzt können wir in Brüssel gestärkt auftreten." So kann man sich täuschen. Dennoch: Das EU-Referendum bleibt neben der Befreiung von der Naziherrschaft 1945 und der Unterzeichnung des Staatsvertrages 1955 ein Markstein der Republik. (Thomas Mayer, DER STANDARD; Printausgabe, 18./19.10.2008)