Nicht das Objekt, der Prozess interessiert Martino Gamper. So entstand das nicht für die Massenproduktion gedachte Projekt "100 chairs in 100 days".

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Ein Meer ausgestanzter Papierkreise hat den Raum geflutet. Vier Schwarz-Weiß-Fernseher zeigen grafische Experimente, Kreidestriche zieren eine schiefergraue Wand. Einzige Farbtupfer in dem schmalen Ausstellungsraum im Londoner Institute of Contemporary Arts (ICA) sind unregelmäßige achteckige Plastiktönnchen in Knallgelb, Tannengrün, Tomatenrot. Das müssen die Sitze von Martino Gamper sein, die in " A Recent History of Writing and Drawing" keine Ausstellungsobjekte, sondern zum Ausruhen gedacht sind.

"Martino who?", fragt der Aufpasser der Kunst zurück, ein schlaksiger Jüngling mit Nickelbrille und rotem Fusselbart. Na ja, Martino Gamper, Shootingstar des Designs, Träger von Auszeichnungen wie des "Designers of the Future" auf der Art Basel 2008, Lehrer für Produktdesign am ehrwürdigen Royal Institute of Art - vor fünf Monaten erzielte eines seiner jüngsten Designobjekte aus der Serie "If Gio only knew" auf einer Versteigerung des Auktionshauses Phillips de Pury umgerechnet 36.000 Euro. Und mit diesen Eckpunkten ist der 1971 in Meran geborene Gamper, dessen freundliches Gesicht ein Bärtchen ziert, bei weitem noch nicht beschrieben.

"Total Trattoria"

Knapp zwei Kilometer weiter östlich kennt man Martino Gamper besser. The Aram Gallery nahe Covent Garden zeigt regelmäßig Gampers Werke, zuletzt die "Total Trattoria" im März dieses Jahres: ein Kochevent, bei dem der passionierte Koch Gamper am Herd stand und jedes Objekt designt hatte - von der Einladungskarte bis zum Weinglas. Die Galerie-Inhaber schätzen ihn, Zeev Aram sagt: "Als ich Martino 2000 nach seiner Ausbildung traf, war er ein wenig besessen von Ecken. Das mochte ich." Aram sah das Modell einer Sitzbank und fragte den Jungdesigner, ob er diese für Aram produzieren lassen wolle. Gamper wollte, die Eckbank "Sit together" entstand, räumte kurz darauf einen Designpreis ab. "Martino ist weitaus intelligenter, als er es durchschimmern lässt", verrät Zeev Aram, "er ist ein Multitasking-Problemlöser und Um-die-Ecke-Denker."

Mit dieser Analyse würde man Gamper jetzt gern konfrontieren, doch sein Büro ist unbesetzt, dort oben im Londoner Nordosten in Hackney. Dort haben Künstler billige Studios angemietet, kleine Werkstätten teilen sich den Platz mit Autowerkstätten und anderer Leichtindustrie. In der Nähe liegt das Olympiagelände für 2012, auf dem schwarze Erdhügel von einer blauen Mauer bewacht werden. Gamper aber ist gerade auf Reisen.

Unterwegs ist er sowieso schon lange: Mit 19 verließ der ausgebildete Tischler Meran, reiste nach Los Angeles und Sydney, arbeitete als Koch und baute für Privatleute Möbel. Nach der Rückkehr beschloss er während eines Besuchs in Wien kurzerhand, dort zu studieren. Sowohl die Akademie der Bildenden Künste als auch die Angewandte nahmen ihn auf, eine Zeit lang studierte er heimlich an beiden Universitäten, bis er sich für Design an der Angewandten entscheidet.

Typische Südtiroler Art

"Ich bin ziemlich naiv nach Wien gekommen", sagt Gamper vergangenes Jahr in der Filmdokumentation "Karriereleiter" der Angewandten, er habe sich kaum Gedanken gemacht, was Design sei. Matteo Thun störte das nicht: Dem Südtiroler fiel der einzige Südtiroler in seiner Meisterklasse sofort angenehm auf. "Nicht nur, dass er wirklich sympathisch war", sagt Thun heute, "er hatte auch die typische Südtiroler Art, Aufgabenstellungen neu zu beleuchten und meine Briefings konstant auf ihre Richtigkeit zu hinterfragen."

Nach zweieinhalb Jahren Wien folgte der junge Südtiroler dem Älteren nach Mailand, um in dessen Studio zu arbeiten. Doch schon zwei Jahre später, 1998, zog es Gamper nach London. Bis heute fesselt ihn dort die Kultur des Andersseins, anders als in Wien, wo man schnell bei der Hand ist mit Wertungen über "gut" und "nicht gut" - "das zerstört vieles", sagt Gamper in der Filmdokumentation. Am Royal College of Art machte Gamper seinen Abschluss, heute ist er dort Tutor.

Ein Wegbegleiter in London ist Rainer Spehl, mittlerweile Designer in Berlin, er wohnte mit Gamper zusammen und verfolgte Projekte mit dem damaligen Endzwanziger. "Wir haben einen ähnlichen Ansatz", sagt Spehl heute über Gamper, "wir sind beide Macher und hocken nicht am Rechner. Martino ist extrem: Er schraubt einfach los, ohne viel darüber nachzudenken." Und das funktioniert umso einfacher, als Gamper ein Sammler ist: "Wenn er etwas auf der Straße sieht, was sich noch verwerten lässt, nimmt er es mit." So ließ sich das gemeinsame Projekt "Furniture while you wait" bequem verwirklichen, aus Fundstücken bauten die Freunde während eines Sommerfests am College ad hoc Möbel zusammen. Dieser Recycling-Gedanke zieht sich bis heute durch Gampers Arbeit, die "100 chairs in 100 days" legen darüber ebenso Zeugnis ab wie auch "If Gio only knew".

"Gio"-Projekt

Für die "100 Stühle" sammelte Gamper zwei Jahre lang ausgediente Stühle aus Holz, Plastik, Metall. Dann zerschnitt er sie, fügte sie zu neuen Objekten zusammen. So hängt etwa eine Gitarre an einem Kasten, die Rückenlehne eines Holzstuhls wird zur Sitzschale eines neuen.

Auch für das "Gio"-Projekt dekonstruierte er Originalmobiliar und fügte es zu Unikaten zusammen, dieses Mal bestand es aus Möbeln, die der renommierte italienische Architekt Gio Ponti in den 1960ern für ein Hotel in Sorrent angefertigt hatte. Auf besagter Auktion gingen Gampers Sekretär und Kommode für insgesamt fast 60.000 Euro weg. Anders als die "100 Stühle" machte dieses Projekt kommerziell Sinn, doch darum geht es dem Designer nicht. Als wir Gamper endlich am Telefon erwischen, meint er: "Bei den Stühlen bin ich 100 Tage etwas nachgegangen, das nur für mich etwas bedeutet: eine Auseinandersetzung mit dem Stuhl." Ein Designer, der sich nicht um Massenproduktion schert: Man darf sich Gamper durchaus als Egoisten vorstellen.

Nur als Recycling-Designer versteht sich Gamper allerdings nicht. "Recycling hat meist diesen minderwertigen Ansatz. Ich gehe aber den umgekehrten Weg: Ich schaffe neue Wertschöpfung aus vorhandenen Ideen." Überhaupt sei eine der größten Herausforderungen für Designer, wie man mit Ressourcen umgehe. Wenn Gamper existierende Ideen neu kombiniert, spuke ihm kein fertiges Produkt in seinem Kopf herum, sondern er überlege, wie das Produkt seine Arbeit reflektiert.

Mit dieser Arbeitsweise bedient sich der Möbeldesigner der Methodik der Kunst, eines suchenden, spielerischen Prozesses, bei dem nicht zwingend etwas herauskommen muss. Ungewöhnlich für einen Möbeldesigner, ungewöhnlich für die Industrie. Deshalb fordert es Gamper, der bislang nur Kleinauflagen oder Unikate realisierte, auch heraus, eines Tages im größeren Kontext zu arbeiten. Allerdings ohne seine Herangehensweise aufzugeben. Ob das geht, weiß er nicht. Aber: "Mich treibt an, wie etwas funktioniert, wie Möbel anders sein können", erklärt Gamper. "Die Frage ist doch, welchen gemeinschaftlichen Nutzen sie haben."

Psychosozialen Ansatz

So seien auch die "Arnold Circus Stools" entstanden, die Hocker aus der Londoner ICA-Ausstellung. Er entwarf sie für einen heruntergekommenen Platz in Ostlondon, um diesen für die Anwohner neu erlebbar zu machen: "Nicht ein Produkt sollte entstehen, sondern eine Intervention. Ein Stuhl, der dort für Veranstaltungen genutzt werden kann."

Diesem psychosozialen Ansatz will Gamper treu bleiben, das Martino'sche Manifest beschreibt er so: Interesse an lokalen Örtlichkeiten, an dem, was im Raum passiert, an Leuten, die involviert sind, und am Verhalten: inwieweit das Produkt auf die Funktion, die Benutzer und die Benutzung eingeht.

Deshalb passt Gamper so gut in die soeben gestartete Ausstellung "Undiszipliniert" in der Kunsthalle Exnergasse, zu deren Abschluss am 11. Oktober ein Symposium im Rahmen der Vienna Design Week stattfinden wird. Künstler, Architekten, Designer interpretieren das Phänomen Raum, Gamper will module Boxen präsentieren, hölzerne Schubladen.

"Ich analysiere ein Sammlerkabinett aus Holz", deutete Gamper seine Arbeit eine Woche vor Ausstellungsbeginn an, mehr sei noch nicht klar. Aber Gamper wäre nicht Gamper, würde er nicht aus dem Stegreif arbeiten. Auf jeden Fall werden seine Schubladen eine Symbiose mit der Architektur bilden, "denn oft machen Möbel das Umgekehrte, arbeiten gegen den Raum". Designer lassen sich nicht in Schubladen stecken, hat Martino Gamper einmal gesagt, "die entwerfen selbst ständig neue eigene Schubladen". In Wien nimmt er dies wortwörtlich. (Mareike Müller/Der Standard/rondo/12/09/2008)