Im Schatten der Rede vom "Empire" formiert sich in Frankreich ein neues politisches Denken. Theoretiker wie der Philosoph Alain Badiou, kommende Woche zu Gast in Wien, brechen mit geläufigen Ideenlehren.


Wien/Paris – In den geläufigen Erörterungen über Gewalt und Globalisierung greift die Masse der Beiträger auf großteils Bekanntes und Bewährtes zurück. Noch die verwegensten Interventionen, in denen an das alte Rom erinnert, die Gestalt eines neuen "Empire" wachgerufen wird, in denen abwechselnd die westliche Welt zum ökonomischen Dämon erklärt wird, die hereinbrechende Gewalt der Fundamentalisten zum Menetekel von Sühne und Untergang – sie alle sind wesentlich auf Jubilar Immanuel Kant (das Königsberger Genie starb vor 200 Jahren) bezogen.

Ihre Einfallstore sind diejenigen der Aufklärung. Zwar wird in den Schriften des "neuen" politologischen Denkens jeder Ideologie die Tür gewiesen. Heutige Marxisten nehmen im Bedarfsfall sogar Lenin gegen das realsozialistische Desaster in Schutz, geben sich aber mit dem klassischen Materialismus aus hygienischen Gründen nicht mehr ab.

Das Denken in "Alternativen", bis vor kurzem obskuren Sekten vorbehalten, maoistischen Selbstfindungsgruppen und 68er-Folkloristen, bricht sich neue, eigenwillige Bahnen. Die Politikbegriffe, von französischen Denkern wie Alain Badiou, Sylvain Lazarus oder Jean Rancière in strikter Opposition zum überlieferten, demokratiepolitischen Kanon ersonnen, sind mutwillige Bruchhandlungen. Den Parlamentarismus westlicher Prägung bekämpfen sie nicht – sie scheiden ihn aus dem Gang ihrer Überlegungen kurzerhand aus.

Verlacht werden die geläufigen Referenzmodelle politischer Partizipation. Die befriedete Austragung von Konflikten im Wege geduldiger Argumentation zeitigt, so der 66-jährige Philosophieprofessor Alain Badiou, Institutsleiter an der Ecole Normale Supérieure in Paris, keine erkennbaren Früchte der Veränderung – denn nur auf Veränderung komme es an.

Normen auf den Müll

Verworfen werden die Ordnungsbegriffe des Zusammenlebens: die Nationalstaatlichkeit, das Recht, die Geltung universeller Normen. Stattdessen gilt, im Fall des Falles, der bewusst vollzogene Bruch mit einer gegebenen (politischen) Situation. Er ist Teil eines politischen Akts – oder mit diesem deckungsgleich. Nur was gedacht wird, was das Denken "als Bericht von dem, was gedacht wird" darstellt, könne Anspruch darauf erheben, ein Denken in Alternativen politisch, das heißt: handelnd zu vollziehen.

An dieser spröden Neubestimmung hängt ein ganzer Schwarm von Folgerungen. Badiou und sein Kollege Sylvain Lazarus räumen bereitwillig, aber auch etwas überstürzt das Feld ideengeschichtlicher Widersprüche und Antagonismen.

Die feinbegriffliche Moderation von Konflikten, das notwendige Ausgleichen und Tarieren im Namen "kommunikativer Vernunft" (Jürgen Habermas) oder des "social engineering" (Richard Rorty) wird vorerst ersatzlos gestrichen.

Es bleibt wenig übrig, was es verdient, hinfort noch politisch genannt zu werden. Politik als das "Denken aller", als die "reale Gewalt der Brüderlichkeit", bricht sich in unvorhersehbaren "Sequenzen" Bahn. Niemals darf schon vorab definiert werden, was eine Situation bedingt oder wesentlich voraussetzt. Alles erscheint im Lichte des Möglichen, in strikter Abgrenzung von Legalität und staatlich verbürgter Gewalt. Jede Möglichkeit, dass etwas "anders" sei, ist mit einer Präskription verbunden, die auf die Einmaligkeit des gegebenen Konflikts hinweist. Das Zauberwort aber heißt: Singularität.

Noch erscheint es unabsehbar, ob sich eine solche Offenheit des Denkens mit dem Druck der realen Verhältnisse auch im politischen Alltag verträgt. Eine von Badiou und Freunden gegründete Organisation politique kann schwerlich als Partei oder Plattform alten Schlags betrachtet werden. Immer nur im Anlassfall zeige sich der Zugriff einer Macht, deren Wesen in ihrer Unbestimmtheit liegt. Das Aufzeigen von Beispielen, wo sich widerständige Politik Gehör verschafft habe, fällt dementsprechend unbestimmt aus. Die französische Arbeitslosenbewegung passt ebenso zu Badious Modell wie der Aufstand in Osttimor oder die burmesische Studentenbewegung vor ein paar Jahren.

Vollends die Frage der Medienrevolution und ihrer demokratisierenden Wirkung im Globalmaßstab harrt noch ihrer Erörterung. Immerhin die landlosen Arbeiter in Brasilien (MST) hätten sich erfolgreich einiger Landstriche bemächtigt – gegen jede Logik der "Anerkennung" durch die Herrschenden und deren Machtapparat. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.1.2004)