Der Grund, weshalb der Islam aus der Sicht des Westens als eine "ganz andere" Religion erscheint, liegt darin, dass der Westen eine systematische Entinstitutionalisierung der Religion erlebt hat. Die Religion ist natürlich nicht aus dem modernen westlichen Leben verschwunden, wohl aber der normierende Anspruch religiöser Institutionen gegenüber dem Verhalten des Einzelnen. Religion hat in der modernen Welt einen viel persönlicheren und spirituelleren Stellenwert als ehedem.

Doch auch innerhalb des Islam findet schon ein Prozess der Entinstitutionalisierung religiöser Erfahrungen statt. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist: Der Islam wird heute in erster Linie von politischen AkteurInnen und kulturellen Bewegungen gedeutet und nicht mehr von Schulen oder sonstigen Autoritäten. Dies ermöglichte es dem Islam, statt weiterhin nur ein lokales und nationales gesellschaftliches Band zu sein, eine imaginäre Verbindung zwischen allen MoslemInnen überall dort zu schmieden, wo sie sich unterdrückt und bedrängt fühlen.

Das hat historische Gründe: Als die Gläubigen nach und nach die ländlichen Gebiete verließen und in die Städte - auch in die des Westens - zogen, ist auch der Islam in Bewegung geraten. Natürlich erleben MoslemInnen infolge der Wanderung ein Gefühl der Distanz zu oder gar einen Bruch mit ihrer gesellschaftlichen Herkunft. Daher sind ihre religiösen Erfahrungen von einer neuen Qualität, weil aller theologischen, gemeindlichen und staatlichen Bindungen beraubt. Religiosität wird stattdessen zu einer Form der persönlichen Sinnstiftung in der Fremde. Nicht die Distanzierung vom modernen städtischen Leben, sondern die Annäherung an dieses löst die Rückbesinnung auf die religiöse Identität aus. Nicht-MoslemInnen sehen üblicherweise im Tragen des Kopftuchs ein Zeichen der Erniedrigung und Unterdrückung der mohammedanischen Frauen. Statt eines Stigmas ist das Kopftuch für Moslems nun zum Zeichen des positiven Bekenntnisses zu ihrer islamischen Identität geworden. Mädchen, die in französischen und deutschen Schulen das Kopftuch tragen, stehen in vieler Hinsicht (etwa in Bezug auf die Jugendkultur, ihr Modebewusstsein und ihre Sprache) ihren Mitschülerinnen näher als ihren an die Wohnung gefesselten, ungebildeten Müttern. Indem sie in Europa das Kopftuch in der Öffentlichkeit tragen, verändern diese Mädchen unbeabsichtigt das Symbol und die Rolle der mohammedanischen Frauen ... (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 20.1.2004)