Egal, ob es in der EU nun bei der Außenpolitik hakt, bei Asyl und Einwanderung oder gar bei der perfekten Vollendung des Binnenmarktes: Sicher ist, dass die Europäische Union eine Rechtsgemeinschaft ist. Viele der einschlägigen juristischen Lehrbücher leiten mit dieser Feststellung alle weiteren Erörterungen ein. Wenn die Mitgliedstaaten das niedergelegte Recht der Union nicht mehr beachten wollen, ist es nämlich aus mit der 1953 begonnenen Form der europäischen Einigung.

Ob man dabei den Stabilitäts- und Wachstumspakt nun für "dumm" hält oder nicht, spielt unter diesem Aspekt keine Rolle: Er steht nun einmal geschrieben, initiiert von Deutschland, einstimmig beschlossen von allen Mitgliedstaaten inklusive Frankreich. Damit geht es, wird er sehenden Auges verletzt, um Grundprinzipien der Union. Und es geht um das Vertrauen in den Euro, den gerade die Bundesrepublik Deutschland ihren Bürgern letztlich nur unter Hinweis auf die sichernde Wirkung des Pakts gegen deren Mehrheitswillen hatte aufzwingen können.

Sieht die EU-Kommission also in der Blockierung des Defizitverfahrens gegen Berlin und Paris im November einen Rechtsbruch, dann kann sie kaum anders, als sich für eine Klage zu entscheiden. Nur so sind die Glaubwürdigkeit der Gemeinschaftswährung und die Autorität der Union gegenüber Renationalisierungsgelüsten der Mitgliedstaaten auch künftig zu bewahren.

Dass sie die Rechtssache "Kommission gegen Rat" in Sachen Stabilitätspakt nun vor den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg bringen, war im Grunde die Pflicht der zwanzig Kommissare, deren Behörde im komplexen Kompetenzgeflecht der Union schließlich die Rolle der "Hüterin der Verträge" innehat.

Die Erkenntnis ihrer Fachjuristen, dass die Mitgliedstaaten bei der umstrittenen Abstimmung im Finanzministerrat gegen die Verfahrensvorschriften des EG-Vertrags und der Stabilitätspaktverordnungen verstießen, machen eine Klärung der Frage vor den obersten EU-Richtern zwingend. Anderenfalls hätte die EU-Kommission freiwillig auf ihre Autorität in Währungsfragen verzichtet - mit möglichen Folgen für viele andere Politikbereiche.

Politisch betrachtet gibt es für die Kommission und die EU freilich wenig zu gewinnen, aber einiges zu verlieren.

Die Chancen der Klage: Stellen die Luxemburger Richter fest, dass der Rat das Defizitverfahren gegen Berlin und Paris unter Verstoß gegen die EU-rechtlichen Regeln gestoppt hat, ist der Willkür der Regierungen in Währungsfragen eine Grenze gesetzt. Dem Vertrauen in den von vielen EU-Bürgern immer noch ungeliebten Euro würde das nur nützen. Schon dann, wenn sie sich an den Buchstaben des Stabilitätspakts halten, stehen den Eurostaaten schließlich so viele Hintertürchen offen, um Strafen für Budgetsünder abzuwenden, dass eine Beugung der Regeln durch den Rat eigentlich nicht nötig wäre.

Dabei hieße es bei einem Erfolg der Kommission nur "zurück zum Start". Der Defizitstreit müsste auf dem Stand von November wieder aufgenommen werden, denn über die Inhalte - die Budgetsünden von Berlin und Paris - darf Luxemburg nicht richten.

Die Risiken: Sollte die Kommission unterliegen, wäre Währungskommissar Pedro Solbes - oder sein Nachfolger - nicht mehr der "Staatsanwalt" des Euro, sondern nur mehr ein machtloser Mahnbeamter. Der Stabilitätspakt selbst wäre als rein politisches Manifest enttarnt - und damit endgültig tot. Viele Gegner dieses Korsetts für die Euroregierungen dürfte das freuen. Vor allem diejenigen, die Schuldenmachen und staatliche Eingriffe als Allheilmittel in allen möglichen Krisen betrachten.

Schon durch das Klagsverfahren selbst wird die derzeitige Unsicherheit über die Regeln, die dem Euro zugrunde liegen, verlängert. Doch dieses Risiko ist es wert: Die Klage zwingt zur Klarheit. Ob und wie man den Stabilitätspakt inhaltlich ändern sollte, steht auf einem anderen Blatt. Das Gerichtsverfahren muss diese Debatte nicht stoppen.(DER STANDARD Printausgabe, 14.01.2004)