Tanz die Polarexpedition! Rosemary Butchers beeindruckende Choreografie "White" im Tanzquartier.

Foto: TQW
Wien - Eisig weiße Antarktis im Jahr 1912. Zwei Männer und ihre Teams im Wettlauf zum Südpol. Nur die Sieger werden das Rennen überleben. Die Geschichte von Roald Amundsen und R. F. Scott ist so oft erzählt worden, dass sie sich als exemplarische Metapher über den dramatischen Tod des Verlierers in unser kulturelles Gedächtnis eingefroren hat. Was geschieht mit einer solchen Tiefkühlware, wenn sie mit einem künstlerischen Mikroskop untersucht, mit feinsten Instrumenten bearbeitet und mit verwandten Texten verschmolzen wird?

Bei Rosemary Butchers neuem Stück White werden - jetzt im Tanzquartier Wien - die Folgen eines solchen Vorgehens sichtbar: Die Story erscheint nicht als psychologisierendes Theater, sondern in choreografischer Elementarform. In dieser Vergrößerung verlieren sich die Strukturen der Sprache. Was bleibt, ist deren Gestus, in dem die Figuren der Polarforscher ebenso verschwinden wie die bekannte Geschichte. Es zeigen sich einzelne Fasern aus dem narrativen Gewebe: die sich hinziehende Fortbewegung als kompliziertes Muster choreografischer Kristalle, das kalte Spektrumssegment der Farbe Weiß, Restklänge vom Echo eines Eissturms. Sichtbar werden drei Frauen, die als Übersetzerinnen der neuen Mikrostruktur in die Makrobox der Bühne agieren.

Was die Tänzerinnen - Elena Giannotti, Anna Holter und Christina Medina - brillant unspektakulär vorführen, ist ein abstrakt anmutendes Grundgerüst des Tragischen, des Frierens und Verlorengehens. Exakt kadrierte Bewegungsmuster reihen sich aneinander, bilden repetitive Schleifen. Hinter den Darstellerinnen ragt eine massive Videowand, auf der geisterhaft bleich weitere Figuren sichtbar werden. Liveaufnahmen von den Tänzerinnen hinter der Wand und bereits gespeicherte Bilder werden von dem Videokünstler Martin Otter während der Aufführung gesampelt: Die Performance wird so zur Projektion und die Projektion auch zur Performance.

White ist ein Meisterwerk nonverbaler erzählerischer Nanotechnik. Nicht von ungefähr gilt Butcher seit 30 Jahren als Großmeisterin des zeitgenössischen Tanzes. Die Choreografie der zurzeit in München arbeitenden Britin bleibt bis zur letzten Minute schlüssig und stimmig und entwickelt dabei eine hochsensible poetische Dramatik. (DER STANDARD, Printausgabe, 10./11.1.2004)