Vor fast genau fünfzig Jahren sprach Karl Popper (1902-1994) in einem Vortrag in Venedig vom Mythos des Fortschritts der öffentlichen Meinung und betonte: "Der Unterschied zwischen einer Demokratie und einer Despotie besteht darin, dass man in einer Demokratie seine Regierung ohne Blutvergießen loswerden kann, in einer Despotie aber nicht." Als die grundlegende Frage der Staatstheorie bezeichnete der große Denker "das Problem der Zähmung der politischen Macht, der Willkür und des Missbrauchs der Macht durch Institutionen, durch die die Macht geteilt und kontrolliert wird".

Wenn man den Popperschen Maßstab an die Sache der Zivilgesellschaft und des von ihm verfochtenen "moralischen Rahmens" der Gesellschaften in Ost- und Südosteuropa anlegt, dann war 2003 von Moskau bis Belgrad, von Vilnius bis Minsk ein Jahr der Enttäuschungen. Die Botschaften der Machthaber in Russland, Weißrussland und der Ukraine zum neuen Jahr lassen nichts Gutes ahnen. Überall, nicht nur nach dem Sieg der Nationalisten in Belgrad, sondern auch in Warschau und Budapest, wird das Bestreben sichtbar, die Schuld für die enttäuschten Erwartungen bezüglich der EU den westlichen Politikern in die Schuhe zu schieben.

Der deutsche Spitzendiplomat Hans-Georg Wieck fordert das ganze Gegenteil einer "Zuckerbrotstrategie" gegenüber den postkommunistischen Machthabern - konkret am Beispiel Weißrusslands, wo er von 1997 bis 2001 OSZE-Beobachter war: Alexander Lukaschenko habe "durch massive Manipulationen und Repressionen das Land in einen neosowjetischen autoritären Staat mit zahlreichen totalitären Merkmalen umgewandelt", schreibt Wieck in der Monatsschrift Internationale Politik und resümiert: Wegen der Beschneidung der Menschenrechte und der demokratischen Verfassungsregeln in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) sei die Russische Föderation kein Verbündeter, kein qualifizierter Partner der EU und anderer europäischer Institutionen.

Mit wohlwollender Unterstützung Moskaus zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung in der Ukraine, dem der Bevölkerungszahl nach sechstgrößten Staat Europas, ab. Staatspräsident Leonid Kutschma, dem westliche Beobachter und die Opposition die Verstrickung in Korruptionsaffären und die Ermordung des regimekritischen Journalisten Georgij Gongadse (vor drei Jahren) vorwerfen, hat soeben durch diverse Tricks im Parlament die Weichen für eine dritte Amtszeit gestellt. Wie in Putins Russland kontrolliert auch in der Ukraine der Apparat des Präsidenten bzw. die ihm ergebene Geheimpolizei die Justiz und die Medien.

Es gibt freilich auch gute Gründe, pessimistisch zu sein, was den von Popper erwünschten "moralischen Rahmen" betrifft. So wird demnächst der junge Hoffnungsträger in Litauen, der Exregierungschef und derzeitige Staatspräsident Paksas wegen seiner zwielichtigen Kontakte zur russischen Unterwelt und zum Moskauer Geheimdienst über die Klinge springen müssen. Aber auch in anderen postkommunistischen Ländern stellte kürzlich die EU-Kommission "endemische Ausmaße" der Korruption bis in die höchsten Machteliten von Warschau bis Prag und Budapest fest. Angesichts der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten in eben diesen Ländern wirkt die Korruption samt Prestigekonsum der Neureichen als politisches Dynamit.

Deshalb stehen die Chancen der Populisten und Nationalisten leider (nicht nur in Serbien) so gut. (DER STANDARD, Printausgabe, 8.1.2004)