Ich hatte die Liebe satt, einfach satt", erklärt ein heutiger Italienreisender im Romanrückblick auf seine deutschen Beziehungsgeschichten. Auch als ernsthaftes literarisches Thema ist die Liebe in deutscher Sprache schon länger in Ungnade: und zwar seit Psychologisierung und Gefühlsbeschreibungen dem Bruchstückhaften der Existenz-Erzählungen voller Narrations-, Sprach- und Emotionsskepsis weichen mussten, andererseits dem Sozial-Prosaischen, sodann auch einem streng feministischen Ansatz, der patriarchalische Lust-Mächte vorführte.

Dennoch, so viele große Werke der Weltliteratur drehen sich um große Liebe, vom trivialen Genre gar nicht zu reden. Beides findet immer (noch) ein breites Lesepublikum. Auch wenn wir wie jene Romanfigur heutzutage wissen, "dass Liebe der Anbahnungszustand der arterhaltenden Partnerwahl war, nichts anderes also als ein vorübergehender biologisch erfassbarer Zustand, eine Art Gemütsverschiebung, die die Welt ausblendete".

Einen derartigen intensiven "Anbahnungszustand" als sensible Entstehungsgeschichte, dabei auch Ästhetisches im Biologischen, also vielfältige "Gemütsverschiebungen", die neue Welten einblenden, gestaltet nun Hanns-Josef Ortheil. Der Titel seines neuen Romans mag auf den ersten Blick hochtrabend oder kitschig wirken, erweist sich jedoch als stimmig: Die große Liebe.

Ein aus der Ich-Perspektive erzählender Münchner Fernsehredakteur fährt nach San Benedetto an der italienischen Adria, um einen Dokumentarfilm über das maritime Leben vorzubereiten, und lernt dort Franca, die junge Dottoressa und Direktorin des Meeresmuseums, kennen. Die kleinen Stufen ihres Aufeinander-Eingehens schildert Ortheil auf eindringliche Weise, in klar-präziser Sprache und in einem feinen Motivnetz, das den Reiz des Fremden und verschiedene Arten der Überschreitung plausibel einfängt. In Bild und Ton: Es schaffen sich die Liebenden aus diversen An-Schauungen ihren Wort-Schatz, zu dem etwa "sarazenisch", "spogliatoio", "Kleinturbellarien", "Crivelli", "terra marchigiana" gehören - Biologie, Ästhetik, Kultur-Räume, Sprache und Gefühl.

"Plötzlich das Meer, ganz nah", so setzt der Roman ein. Die Annäherung ist zunächst eine geografische, kulturelle. Der Fernsehfilmer, von dem man einzig die italienische Übertragung des Vornamens, Giovanni, erfährt, wacht nach einer Nacht im Zug auf und erblickt das Meer "wie eine weite Verheißung". Dessen detaillierte ästhetische Reize erschließen sich dem Deutschen später erstmals, als Franca ihn durch das Museum führt.

Während ihr Kollege Gianni Alberti den Eindruck eines pedantischen Technikers beim langweiligen Diavortrag macht, verspürt der Ich-Erzähler bei und mit der Dottoressa geradezu "Verzücktheit". So regt sie ihn an, den Meeres-Raum - am Strand, unter Wasser - anders, genauer zu sehen. Nachdem er über sie, die ihm noch Unbekannte, Vermutungen angestellt und sie sich als "Bild-Süchtige" gedacht hat, übt er entsprechend die persönliche Annäherung virtuell, mit seiner Digitalkamera. Unbemerkt zoomt er auf ihr Gesicht, "aus der Dunkelheit schoss es auf mich zu, ich versuchte, ihrem Mienenspiel so nahe wie möglich zu kommen, und zeichnete es bis in die Details nach, [...] es war beinahe, als nähme ich ihr Gesicht in beide Hände und als touchierten meine Finger die Haut." Dieses Nachzeichnen des Gesichtes weist voraus auf das im zweiten Teil des Romans wesentliche Gemäldemotiv; es findet zudem eine Art Weiterführung im (zunächst unbewussten) Nachzeichnen von Francas intensivsten Bindungen, an den Bruder und den Vater.

Langsam und dennoch spannend, nicht ohne das Ambiente dieses Küstenlandstrichs in den Marken subtil einzufangen, führt Ortheil den Deutschen und die Italienerin aufeinander zu und baut ihnen eine Welt von Beziehungen und Bezügen auf. "Die große Liebe" sei es, so pathetisch das klingen möge, erklärt der Filmer seinem Münchner Kameramann am Telefon und hört kurz danach vom Hotelier Carlo, mit dem er sich angefreundet hat, dass Franca mit Gianni Alberti verlobt sei. Der Deutsche, der in italienische Verhältnisse einbreche, wird gewarnt, bedroht - und spricht in einer bravourös gestalteten Szene auch zu Alberti, den Franca verlässt, von der "großen Liebe". Ein derart schwärmerischer Begriff, erwidert jener, sei etwas für Romane. "Wir befinden uns aber in einem Roman, sagte ich, Franca und ich - wir schreiben gleichsam an einem Roman." Und im Schlussteil: "Plötzlich das Meer, ganz nah, dachte ich, so müsste dieser Roman anfangen." Dezidiert: In den schönen Künsten, in der Literatur lassen sich die großen Gefühle vermitteln.

Der deutsche Giovanni erfährt eine Lebensart in den Marken, an der Küste und in Bergdörfern, bei Essen und Trinken, mit einem erzählenden Padrone. Er filmt Menschen, den Markt, Strand und Meer. Anfangs scheint er auf das Bildhafte konzentriert; dies differenziert sich dann unter dem Einfluss der großen Liebe ebenso wie das gesamte Filmprojekt, über das sich Francas Ton legt. Ihre Stimme ist es ja auch, die er als Erstes von ihr wahrgenommen hat; es fasziniert ihn ihre Art zu reden und zu erzählen: "ein Wort gibt das andere, wir geraten miteinander, könnte man sagen, in einen Zustand der ununterbrochenen, begeisterten Unterhaltung [...] Sprachwollust, Weltverwandlung".

Die filmische Bildverdichtung, die Franca in der Mitte des Romans als "fokussierte Blickweise" bezeichnet, findet sich zunehmend von einer bildnerisch-ästhetischen überlagert. Der Ich-Erzähler, der Kunstgeschichte studiert hat, bringt nämlich in Erfahrung, was bezeichnenderweise Gianni Alberti unbekannt ist: dass Franca genauso aussieht wie die Magdalena auf einem Gemälde von Carlo Crivelli. Nun kann er ihren Eintritt in sein Leben und damit die "große Liebe" interpretieren. Sie sei ihm im Museum ("ich hörte sie, erst dann drehte ich mich zu ihr um") erschienen "wie eine von alten Meistern gemalte Figur, wie eine Personifikation all der glücklichen Lebensumstände, die mich genau zu diesem Zeitpunkt umgaben". So hält er es in seinem Notizbuch fest. Das "Texten", wie er es nennt, war ihm die sprachliche Wahrnehmungsfixierung gewesen, bislang "als Kommentar zu Bildern". Auf dieser italienischen Reise ändert sich auch das: die Weltendarstellung ist nicht mehr nur dem Visuellen untergeordnet; die Bilder werden zu Literatur.

So wie dieser Giovanni die Details von Crivelli-Gemälden mit dem Fernglas studiert, so präzise sind seine Beobachtungen beschrieben, insbesondere jene von Francas Gesten: "sie drehte und berührte das Glas mit beiden Händen und schob es dann mit der Linken zur Seite, sie fuhr mit den Fingerkuppen über das Tischtuch, sie bewegte sie langsam, wie in Trance, verweilte bei einigen Brotkrumen, rollte sie mit der äußersten Spitze des Zeigefingers ein kleines Stück, näherte sich wieder dem Glas, ließ es von der Linken herbeirücken, bis auch die Rechte es wieder zu fassen bekam, dann strich sie mit dem Daumen langsam über seine Rundung bis hinauf zur Öffnung" - wie ein erotisches Fingerspiel auf einem kleinen Tischtheater.

Die Worte, die Art des Erzählens, des Gesprächs spielen für die Liebesgeschichte eine wesentliche Rolle, auch für die Beziehung der Liebenden zu den anderen Figuren, etwa zu Francas Vater, mit dem sich der Deutsche sehr amüsant über die Küstenbewohner und das Meer unterhält. Überhaupt: das Meer - es ist der große und weite Hintergrund des ganzen Romans, und auch für die Begegnung der Körper setzt Ortheil das zwar bekannte, in diesem Rahmen jedoch durchaus passende Sinnbild: "dann spürte ich ihre Arme auf meinem Rücken, ihre Beine umfassten mich, wir bewegten uns langsam, ich glaubte eine Wellenbewegung am Strand zu sehen, als ginge ich dort wie in den ersten Tagen entlang, die Wellen liefen auf dem Sand, immer aufs neue spülte das Meer sich heran, vor und zurück, kleine, ockergelbe Kugeln tanzten in seiner Gischt, wir drehten uns, ohne uns nur einen Moment loszulassen."

Gewiss, dass Romanfiguren, die nach Italien reisen, Kunsthistoriker sein müssen, dass die geliebte Frau aussehen muss wie auf Bildern alter Meister - das steht am Rande des Genrehaften. Gewiss, bisweilen wirkt der narrative Bogen leicht überspannt, die beiden letzten, kurzen Kapitel erscheinen eher als eine entbehrliche Ehrenrunde. Aber nachdem Hanns-Josef Ortheil 1998 in seinem spannenden, vergnüglich-ironischen Roman Faustinas Küsse einem geheimnisvollen Fremden aus Weimar 1786-88 in Rom die Freuden der amourösen Körperlichkeit entdecken ließ, legt er nun in einer neuerlichen italienischen Erzählbewegung einen gelungenen Roman vor, der Die große Liebe sinnlich und ästhetisch ansprechend schildert: in ihrer Intensität, plausibel und in feinen psychologischen Schattierungen, in reizvollen und vielschichtigen Kultur- und Gefühlstiefen. (Klaus Zeyringer/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27./28. 12. 2003)