Bild nicht mehr verfügbar.

Neu im renommierten Kaufhaus Galeries Lafayette: Partnersuchende Kunden wählen speziell gekennzeichnete Einkaufskörbe, um zu zeigen, dass sie "disponibel" sind.

Foto: Der STANDARD/Archiv
Nach der Dominanz der "Pornokratinnen" findet die Hauptstadt des Lasters wieder zu subtileren Formen des Miteinanders zurück.

Paris schien zwei Jahre lang wieder einmal im Ruch höchst frivoler Sitten zu stehen. Aus der ganzen Welt reisten Literaturkritiker an, um die Päpstin der neuen Pornografie, Catherine Millet, aufzusuchen, die ihnen höflich die Themen ihres Selbsterfahrungsberichtes auseinander setzte: Gruppensex, Gruppensex und nochmals Gruppensex. Wie genau, ist in dem über 600.000-mal verkauften Bestseller Das sexuelle Leben der Catherine M. beschrieben. Sachlich, objektiv, repetitiv bis zur Monotonie.

Wie die neue Kultautorin bewegte sich bald auch ihr Buch in bester Gesellschaft. Eine ganze Reihe exhibitionistischer Autorinnen griff in die Tasten und legte weitere, noch obszönere Sexreporte vor. Die ehemalige Luxusprostituierte Nelly Arcan produzierte einen Verkaufsschlager namens "Hure"; die feministische Regisseurin Catherine Breillat wiederum erreichte mit Romance nur ein Besuchsverbot für Minderjährige. Dabei hatte sie sogar den italienischen Pornostar Rocco Siffredi für seine erste Rolle in einem "richtigen" Spielfilm gewonnen.

Schauer des sexuellen Tabubruchs durchrieselten die Pariser Literaturszene, als Christine Angot Inceste ver- öffentlichte, die Beschreibung einer lesbischen Liebe und der vorgängigen Vergewaltigung durch den Vater. Auch hier ergab sich in erster Linie der Eindruck einer literarischen (und sexuellen) Regression. Wiederholung ersetzt Entwicklung, Instant-Befriedigung die Luststeigerung; plumpe Transgression verdrängt die literarische Transzendenz.

Anhänger der hohen französischen Liebeskunst entgeistert: Ist sie so tief gesunken, die jahrhundertealte Tradition der Galanterie und der Verführung? Bleibt von Marivaux' Komödien, Truffauts filmischen Hymnen an die Frau, Fragonards Rokoko-Gemälden oder Barbaras Chansons nichts übrig als eine grell-aktuelle Dekadenz der Leidenschaft?

Nein, die sexuelle Regression zum Jahrhundertbeginn liegt damit fast schon hinter uns. Paris prickelt wieder. Haute Couture ist nicht mehr Hard Core; Yves Saint Laurents Sommermode 2004 wurde von Laufstegexpertinnen als "leicht und verführerisch" qualifiziert, während sie Lanvin "feine Sinnlichkeit" attestierten.

Venus Béart

"Zurück zur Weiblichkeit", fasste Elle zusammen. Im Sommer hatte die Frauenzeitschrift Paris bereits in Aufruhr, um nicht zu sagen in Wallung versetzt. Auf dem Kioskaushang von Elle stand Kinostar Emmanuelle Béart wie die schaumgeborene Venus splitternackt in den Meereswellen. Über ihre braun gebrannte Schulter schickte sie einen so fragenden Blick zurück, dass die Pariser Autofahrer, wenn sie daran vorbeifuhren, noch unberechenbarer als sonst wurden.

Dabei war das Bild keineswegs "porno-chic". Es zeigte bloss eine zeitgenössische Französin im besten Alter, Mutter von zwei Kindern, überdies Goodwill-Botschafterin für das Kinderhilfswerk Unicef. Dennoch: Der schönste Schmollmund des nationalen Kinos blieb wochenlang Stadtgespräch, während die französischen Pornokratinnen aus der Mode kommen.

Französisch ist an ihnen eigentlich nur ihre offene und unverblümte Sprache. Insofern setzen sie durchaus eine Tradition fort, die schon im Mittelalter in den erotischen Elegien der Louise Labé ("Küss' mich nochmals, küss' mich wieder, küss'") einen Ausdruck fand und sich über die Literatur der Frauenbefreiung hinaus entwickelte.

Ansonsten sind die diversen Formen von "Autofiktion" ein generelles westliches Phänomen. Selbst die skandalumwitterten Partnertauschlokale sind keine französische Eigenheit. Catherine Millet machte die "clubs échangistes" in Paris sozusagen salonfähig, und die Zeitgeistmagazine überboten sich mit redaktionellen Selbsterfahrungsberichten aus den Kellern der französischen Kapitale.

Noch normal?

Auch diese Welle flaut aber wieder ab. Der Sexologe Philippe Brenot berichtet, eine Zeit lang hätten ihn Frauen in seiner Praxis nur noch gefragt: "Ich habe keine Lust auf Liebe unter mehreren - bin ich normal?" Jetzt gibt Brenot Sturmentwarnung: Abnormal sei bloß der von der Sexindustrie gesponserte Medienwirbel um die neuen Etablissements gewesen. Und Sorbonne-Literaturprofessor Michel Delon klärt auf: "Nach all dem Porno-Kommerz erfinden wir die Verführung neu, als Spiel der köstlichen Verzögerung und der unsicheren Versprechen."

Ein neues Sonderheft des "Nouvel Obs" zur "Kunst der Verführung" handelt - nein, nicht von Catherine Millet, sondern von Höherem: von Sirenengesängen und dem Gefühl der Schwerelosigkeit, vom betörten Schauen und sublimen Schenken, von Platon und Satan, Casanova und Ava Gardner, von der Galanterie der Tiere und der Taktik der "mauvais garçons".

Praktische Nachhilfe erteilt neuerdings eine "Ecole Française de la séduction" in Paris. Anwendung finden sie etwa in den Galeries Lafayette: Partnersuchende Kundinnen und Kunden wählen dort speziell gekennzeichnete Einkaufskörbe, um zu zeigen, dass sie "disponibel" sind.

Als das renommierte Kaufhaus unlängst die weltgrößte Unterwäscheabteilung eröffnete, offerierte es zur Feier des Anlasses halbstündige Stripteaselektionen, bei denen frau lernte, wie das Fallenlassen der Hüllen mit hochhackigen Schuhen zu bewerkstelligen ist. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24. - 26. 12. 2003)