Die Staatsführung des libyschen Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi ist seit dessen Machtübernahme 1969 von einer Konstante geprägt: der Unberechenbarkeit. Mit zunehmendem Alter scheint sich bei ihm jedoch ein Hang zum Pragmatismus durchzusetzen, dem gewiss auch von der Tatsache auf die Beine geholfen wird, dass die Luft für seinesgleichen dünner wird: Saddam ist entmachtet und gedemütigt, die alte arabische Garde teilweise weggestorben, die Nachfolger sind schwach. Nur jene undemokratischen Regime, die brav kooperieren, können sich dem Druck der USA entziehen und weiter ziemlich ungestört auf Demokratie und Menschenrechte pfeifen, bestes Beispiel ist Libyens Nachbar Tunesien.

Wenn Gaddafi heute feierlich auf seine Massenvernichtungswaffenprogramme verzichtet, die Experten insgesamt eher als nicht sehr aufregend einschätzen, dann kann er nur gewinnen. Er macht das aber sehr schlau: Die Aufhebung der US-Sanktionen und die Rückholung der US-Ölfirmen ins Land wäre nicht nur Libyen willkommen, sondern angesichts der schwierigen Situation im Irak gerade in diesem Moment auch sehr interessant für die Amerikaner. Eine Normalisierung mit Washington bedeutet für Gaddafi wiederum eine Rückenstärkung im Terror-Entschädigungsstreit mit Paris: Man kann getrost annehmen, dass ein US-Run auf die libyschen Ölfelder einem Abgehen der Franzosen von einer Maximalforderung zuträglich sein würde.

Und die USA hätten ohnehin nicht zugeschaut, wenn ruchbar geworden wäre (und das wird es immer), dass Libyen Atomwaffen zu entwickeln versucht. Tripolis wird also, wie soeben Teheran, das Zusatzprotokoll der Atomenergiebehörde (IAEO) unterschreiben und erweiterte Inspektionen zulassen. Aber spannend wird es dann wieder, wenn Libyen - und der Iran - in ein paar Jahren von der IAEO für ihre Kooperation Hilfe bei der Entwicklung von zivilen Atomprogrammen verlangen. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.12.2003)