Funke, Cornelia:
"Tintenherz"
erschienen beim Cecilie Dressler Verlag
Hamburg
576 Seiten/€ 19,90

Eine gelungene Hörbuchedition (16 CDs um € 69,90) ist in der Edition Jumbo Neue Medien erschienen.

Foto: Buchcover/Dressler Verlag
Eigenwillige Parallelwelten für Büchernarren und literarische Figuren entwickelt die deutsche Schriftstellerin Cornelia Funke in ihrem jüngsten Jugendbuch "Tintenherz", dessen Erfolg jetzt schon mit dem von Michael Endes "Unendlicher Geschichte" verglichen wird.


Wien - In vielen Buchhandlungen wird einem gegenwärtig ziemlich drastisch vor Augen geführt, wie das ist, wenn ein Markt boomt, gleichzeitig aber nur noch von einigen wenigen Logos dominiert wird. Da kann es schon vorkommen, dass ein Riesenstapel des neuen Harry Potter die restliche Kinderbuchabteilung in den Schatten stellt. Auch wenn es entschieden Unerfreulicheres gibt als junge Menschen, die sich um einen 1000-Seiten-Wälzer raufen: Kennen die eigentlich noch andere Romane und Helden? Immer noch ist die so genannte Kinder- und Jugendliteratur ein Bereich, dem sich die Medien mit einer gewissen Gönnerhaftigkeit nähern. Wirklich von Interesse sind Autoren oft erst, wenn sie auf eine "unendliche" Erfolgsgeschichte zusteuern - so wie einst Michael Ende oder jetzt Joanne K. Rowling. Ab diesem Zeitpunkt wird die Rezension meist zur ökonomischen Bewertung: Wer casht da jetzt wie viel ab, und ab wann casht er oder sie durch Verfilmungen noch einmal so viel ab?

Die Schriftstellerin und Buchillustratorin Cornelia Funke wird aufgrund solcher medialer Prioritäten derzeit allerorten "die deutsche J. K. Rowling" genannt. Das hängt damit zusammen, dass - um beim Bild der Bücherstapel zu bleiben - ihr Stapel mittlerweile schon ziemlich beeindruckende Ausmaße annimmt. Seit ihr Roman Herr der Diebe auch in die Jugendbestsellerliste der New York Times gelangte und im nächsten Jahr als internationale Großproduktion verfilmt wird, interessiert sie offenkundig bevorzugt als "Erfolgsphänomen". Funkes neues Epos Tintenherz erschien denn auch bereits parallel zum deutschen Start in Amerika und England mit riesigen Startauflagen: Und wenn es nach Newline Cinema, dem Produzenten des Herrn der Ringe geht, heißt eine der nächsten großen Kinotrilogien Inkheart.

Eigenleben, blond

"Das Buch war noch nicht einmal raus, da standen die schon bei mir Schlange", erzählt Cornelia Funke, es ist offenbar auch für sie nicht ganz klar, ob der Film ihrem Buch "genug Luft" für ein selbstständiges Leben in den Köpfen von Lesern lassen wird, "die auch einmal sagen: ,Für mich ist der Held blond, auch wenn Sie schreiben, dass er schwarze Haare hat.'" Andererseits: "Wenn man Filmfan ist wie ich und man erhält zugesichert, dass die besten Regisseure, Drehbuchautoren und Darsteller verpflichtet werden, dann schafft das große Lust an dieser anderen Form des Geschichtenerzählens."

Es ist einigermaßen ironisch, dass gerade Tintenherz eigentlich einen Zauber beschwört, der solchen Aufwand nicht benötigt. Im Prinzip erzählt das Buch als Auftakt einer geplanten Romantrilogie von ganz altmodischen Büchernarren und von der höchst verführerischen Macht des Schreibens, Lesens und Vorlesens, die Funke auf die Spitze treibt. Ein Bücherrestaurator und seine Tochter beherrschen die Kunst, Figuren und Dinge aus Büchern herauszulesen, wofür gleichzeitig immer jemand oder etwas aus unserer Welt in eine Geschichte hineinverschwindet: Seit Jahren ist die Mutter der jungen Heldin verschollen. Stattdessen kommt es zu einem Ringen mit Bösewichten und einem coolen Feuerschlucker namens Staubfinger, die der Vater versehentlich aus einem Roman namens Tintenherz herbeigesprochen hat.

Funke entwickelt dieses Spiel mit Realitäten und Fiktionen als teilweise konventionelle Gebrauchs- und Spannungsliteratur. Wirklich ungewöhnlich ist Tintenherz aber in den Literaturzitaten, mit denen die Autorin ihre Erfindung anreichert und dabei gleichsam den Lesern signalisiert: Seht her, es gibt neben den großen Bestsellern durchaus ebenbürtige, oft sogar bessere Bücher!

Insofern ist es aufschlussreich, sich mit der versierten Leserin Cornelia Funke zu unterhalten: Über den großen US-Lyriker Shel Silverstein (Where the Sidewalk Ends) etwa, die Brautprinzessin des William Goldman, Rudyard Kiplings Geschichten für den allerliebsten Liebling oder die Frage, ob C. S. Lewis in seinen Romanen über das Paralleluniversum Narnia tatsächlich die Körperlichkeit negiert.

Bitte heftiger!

Oder über den Schmerz und die Angst als Antriebskraft für große Bücher: "Michael Ende hat wohl ziemlich mit sich gerungen, ähnlich wie Tolkien mit seinen Weltkriegserfahrungen; daran muss ich auch immer denken, wenn mein Sohn ,heftigere Bücher' von mir fordert. Mein bisheriges Leben verlief ja doch eher undramatisch", sagt Funke, die in ihrem neuen Buch aber eine sehr symptomatische besondere Neigung zu Staubfinger entwickelt hat - jenem Helden, der sich mit dem Weiter-leben in einer fremden Welt nicht abfinden mag.

"Manchmal, wenn ich mir derzeit selbst so beim Arbeiten und Leben zusehe, habe ich das Gefühl, das ist alles nicht wirklich. Ich meine: In Hotellobbys sitzen und Interviews geben, die dann nach einer Stunde enden sollten, weil schon die nächsten Reporter warten. Oder mit Agenten darüber verhandeln, ob man mit einer Figur, die ich mir ausgedacht habe, vielleicht noch ganz andere Filme kreieren darf. Als ich sagte: Das will ich nicht, waren alle überrascht. Das sei in der Branche nämlich eigentlich üblich!"

Und wann erscheint, auch im Wettlauf gegen das Kino, Tintenherz 2 ? Cornelia Funke will sich damit noch Zeit lassen - obwohl das Buch schon mehrere Überarbeitungsschritte durchlaufen hat. Aber wie die Geschichte in Band 3 enden wird, das weiß die Schriftstellerin noch immer nicht. "Ich denke da nicht sehr strategisch. Irgendwann gehen die Erzählungen mit mir durch" - und dabei meist hinauf bis an die Spitze der Bestsellerlisten. Die Verkaufszahlen des ersten Bandes sind jedenfalls so gut, dass der Verlag gegenwärtig Erwähnung in den Spiegel -Charts einfordert. Dort wird Tintenherz als "Kinderbuch" nämlich nicht genannt, Harry Potter aber schon, weil ihn auch Erwachsene lesen ... "Seltsam, oder?" (DER STANDARD, Printausgabe vom 1.12.2003)