Trauer? Aggression? Sean Penn in Clint Eastwoods jüngstem Meisterwerk "Mystic River", das voll ist mit derartig kippenden, "verkehrten" Momenten, ungeheuerlichen Opfern und opfermütigen Tätern.

Foto: Warner Bros
Schuld und Sühne und Gewaltverhältnisse, denen scheinbar keiner mehr entrinnen kann - auch als Kommentar zum Selbstverständnis der USA.


Wien - Wenn es nach Clint Eastwood ginge und wenn er neben seinen Begabungen als Regisseur, Musiker und nicht zuletzt auch als Star auch noch Romanautor wäre - dann schriebe er vielleicht einen solchen Buchanfang: "An einem ganz normalen, bewölkten Spätnachmittag in einem irisch besiedelten Vorort von Boston wurden drei kleine Jungen von einem offenbar hochgeistlichen Herrn in dessen Limousine gebeten. Einer fuhr mit."

Mystic River ist kein Roman von Clint Eastwood, sondern von einem jungen Bestsellerautor namens Dennis Lehane, der etwas weniger nüchtern schreibt, aber der Film, den Eastwood nun daraus gemacht hat, er ist auf vertrackte Weise pragmatisch. Das traumatische Kindheitserlebnis dreier Männer kommt mit einem etwas lapidaren, unterkühlt dramatischen Duktus daher, auf den das gewöhnlichste Whodunnit folgen könnte: ein weiteres Verbrechen; Polizei tritt auf den Plan; es folgen Investigationen und weitere Konflikte, schließlich Katharsis; Happyend. Das Leben geht weiter. Ganz einfach.

Das ist denn auch, sehr grob gesprochen, die Handlungsabfolge von Mystic River, aber: So schlichte "Sätze" Eastwood auch formulieren und inszenieren mag - er kreiert mit ihnen denkbar komplexe Arrangements. Sean Penn als liebender Familienvater kommt zum Beispiel von Beginn an mit der Rock-'n'-Roll-Attitüde eines Exsträflings daher. Tim Robbins als sein immer noch traumatisierter Freund strahlt in aller Schutzbedürftigkeit ein immenses Aggressionspotenzial aus. Kevin Bacon als Dritter im Bunde kippt viel zu oft aus der Rolle des Cops in eine private Vertraulichkeit, als dass er (unter Freunden) wirklich als klassischer Ermittler durchgehen könnte.

Politik und Gewalt

Mehr sei über die überraschenden Volten der Handlung, die immer wieder hart ans Kolportagehafte grenzt, nicht verraten. Stattdessen: Verweise auf ein paar Bilder, in denen die konventionelle Verbindung von Gezeigtem und Gemeintem jäh in eine Abgründigkeit umschlägt, angesichts derer man Mystic River (auch im Gefolge von 9/11) getrost als hochpolitischen Kommentar zum heutigen Selbstverständnis der USA interpretieren kann.

Da wäre etwa die Trauer des von Sean Penn gespielten Vaters angesichts seiner ermordeten Tochter: Der Mann fährt förmlich aus der Haut. Nur mühsam kann er von Polizisten niedergehalten werden. Würde dieselbe Szene in einem anderen Handlungskontext gezeigt, könnte sie wohl auch den Ansatz zu einer gewalttätigen Attacke bebildern. Einer Attacke, die nicht weniger Unrecht in die Welt setzt als die Ursache, mit der sie sich legitimiert.

Oder: Eine große Parade zum Independence Day. Die Straßen gesäumt mit jubelnden Menschen, vereinten Familien. Dazwischen: Blickwechsel unter Nachbarn, die einander bedeuten, dass "es" (und da sind auch alle Schattenseiten inkludiert) ganz unbedingt so weitergehen muss und wird. Man täte hervorragenden Schauspielerinnen Laura Linney und Marcia Gay Harden Unrecht, würde man ihre Leistung neben denen der männlichen Stars von Mystic River gering schätzen. Gerade bei ihnen, die als treu sorgende Ehefrauen Verrat und Machtkalkül nicht scheuen, um zu garantieren, dass "es" so weitergeht - gerade angesichts dieser Vorortköniginnen entwickelt Eastwoods Film eine ganz eigene, zunehmend monumentale Dämonie.

Niemand ist eigentlich schuld daran, dass "es" so ist, wie es ist. Archaisch nehmen die Dinge ihren Lauf. Fast wirkt der geistliche Kinderschänder am Beginn des Films wie eine griechische Gottheit, die in purer Willkür mit ihren Geschöpfen gespielt hat: Mit Menschen, die ohne eigenen Antrieb schließlich von einer Schuld in die nächste stolpern, ohne erkennbaren Ausweg. Insofern ist Mystic River finsterste Tragödie und - wie schon Eastwoods Meisterwerke Unforgiven und A Perfect World - ein zutiefst pessimistischer Film. Einer, nach dem man einmal mehr naive Grenzen zwischen "Tätern" und "Opfern" nicht mehr zu akzeptieren vermag. Clint Eastwood, der sich entlang dieser Grenzen ein Leben lang exponiert und vom einsamen Rächer wegentwickelt hat: Er weiß, wovon er spricht. Und deshalb schafft er das auch mit ganz einfachen, klaren Sätzen. (DER STANDARD, Printausgabe, 27.11.2003)