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... die kosmischen Kräfte zerstörten nur Krebszellen, nicht aber gesunde. Ein möglicher Weg zu einer neuen Behandlung?

Genf/Wien - Es ist beinahe ein ganz kleines bisschen so, als hätten sich im Gewebe eines zerschnipselten Hamsters die beiden unvereinbaren physikalischen Theorien zum Heil und Segen der Menschheit endlich unter einen Hut bringen lassen: die Theorie des ganz Großen, des Weltalls und all dessen, was sich dort abspielen soll, und die Theorie des ganz Kleinen, die Quantenphysik mit all ihren seltsamen Erscheinungen. Im Cern, dem Europäischen Kernforschungszentrum in Genf, ist nämlich die erste Versuchsreihe zur Tumorbehandlung mit Antimaterie "sehr erfolgreich" durch den Teilchenbeschleuniger gegangen, freut sich der deutsche Kernphysiker und Projektleiter Rolf Landua.

Die in Gelee eingelegten Hamsterstücke sind allen Unkenrufen zum Trotz nicht im quantenmechanischen Nirwana verschwunden, die durch den Beschuss mit Teilchen aus der Gegenwelt entstandene kosmische Energie hat nur die Krebsgeschwulst subatomisiert, nicht aber gesundes Gewebe. Dabei war das Experiment von vielen Forschern belächelt worden.

Selbst Landua hatte, wie berichtet, das Experiment zunächst für ein wenig verrückt gehalten, doch verflüchtigten sich seine Zweifel während der durchgeführten Versuche: "Aus unseren bisherigen Berechnungen geht hervor, dass die Bestrahlung eines Tumors mit Antimaterie wahrscheinlich dreimal so effizient ist wie die Behandlung mit Protonenbestrahlung, die heute als wirkungsvollste Strahlentherapie gegen Krebs gilt."

Landua warnt jedoch vor verfrühter Euphorie: "Diese Daten sind nicht abgesichert. Wir müssen erst noch einige Vergleichsuntersuchungen durchführen." Die Forscher im Cern sind aber guter Dinge und wollen die Methode in "intensivierten Versuchsreihen" ab kommendem Jahr verfeinern. Wie aber funktioniert die ganze Sache eigentlich?

"Materie ist praktisch hohl", erläutert Landua. Sie wird von Atomen aufgebaut, die - sehr vereinfacht - aus negativ geladenen Elektronen in der Hülle und positiv geladenen Protonen im Kern bestehen. Ausgehend von Größe und Gewicht sind Elektronen im Vergleich zu Protonen völlig vernachlässigbar, simplifiziert sei die Materie im Folgenden daher nur auf Protonen reduziert.

Rasend schnell . . .

Und Antimaterie, erklärt Landua, sei nichts anderes als Protonen, nur dass sie eben nicht positiv, sondern negativ geladen sind: also Antiprotonen. Diese stellt Landua selbst her, indem er hundsordinäre Protonen im Teilchenbeschleuniger auf eine irrwitzige Geschwindigkeit treibt und dann auf eine Kupferplatte krachen lässt. Dabei entstehen neue Teilchen, darunter auch Antiprotonen - die im Magnetfeld der Röhre gezielt auf den Hamster geschossen werden.

Trifft in dem Nager nun Antimaterie auf tumoröse Materie, Antiproton auf Proton, negative Ladung auf positive, folgt eine gewaltige Explosion kosmischer Kräfte. "Annihilation" heißt dieser Knalleffekt, bei dem sich die Kerne aus der Welt und der Gegenwelt in einem subatomaren Feuerwerk in Nichts auflösen. Beinahe.

Bei der Annihilation entstehen nämlich "einige Spaltprodukte, die in einem kleinen Bereich großen Schaden anrichten", freut sich Landua. Diese nützte man bei der experimentellen Krebstherapie zusätzlich aus: Bei der Antiprotonenbestrahlung wurden nicht nur die Atomkerne im Inneren der Krebsgeschwulst zerstört, sondern durch die hochenergetisch strahlenden Spaltprodukte auch umliegendes Tumorgewebe.

Bleibt nur noch die Frage, wie denn die Antimaterie in den Tumor gelangt, ohne beim Durchdringen von gesundem Gewebe das zu tun, was sie eben tut - und sich der ganze Patienten mit einem gewaltigen Knall in Nichts auflöst.

Das Größenverhältnis zwischen der aus Elektronen bestehenden Atomhülle und den Protonen des Kerns lasse sich laut Landua mit einem Fußballstadion vergleichen. Der Atomkern hat in diesem Modell die Größe eines Kirschkerns mitten im Stadion: eine riesige Verpackung um die "eigentliche" Materie - Antiprotonen hätten also mehr als genug Platz, durch Atome zu sausen, ohne dabei mit Protonen im gesunden Gewebe unangenehme kurzlebige Bekanntschaft zu schließen.

. . . ins atomare Ziel

Auf ihrem rasanten Weg zum Krebsgeschwür jedoch, erläutert der Kernphysiker, werden die Antiprotonen durch die elektrostatische Wirkung der Elektronen in den Atomen des gesunden Gewebes immer langsamer. Bis sie schließlich nicht mehr durch die Atome hindurchsausen, sondern darin stecken bleiben. "Zunächst in der Hülle, wo sie ein Elektron herauskicken", schildert Landua, "nach einer Milliardstel Sekunde treffen sie dann den Kern." Und schon kracht es. Über Dosis und Ausgangsgeschwindigkeit wird gezielt gesteuert, wo die Antimaterie ihre annihilatorische Kraft freisetzt - im Tumorgewebe.

Lassen sich die bisherigen Erfolge in den anstehenden Testreihen wiederholen, werde es dennoch Jahre dauern, bis eine Antiprotonenbestrahlung Krebskranken zugute kommt, erklärt Landua. Denn eine technische Adaptierung für den klinischen Betrieb müsse erst noch gefunden werden. Weder könne man heutige Teilchenbeschleuniger in ein Spital stellen, noch Patienten in die Genfer Vakuumröhre des Cern stecken. (Andreas Feiertag/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15./16. 11. 2003)