Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: Archiv
Salzburg - Mitten im Leben ein Endpunkt, das dunkel schwankende Nichts: im Sommer die Arbeit verloren, im November von der Lebensgefährtin getrennt, nach neun Jahren, von der Mutter der gemeinsamen Tochter, verloren auch die Wohnung, und kein Geld für Miete.

Für Peter Kurzeck wurde die Erfahrung des Endes Initialpunkt eines Sprachstroms, eines auf vier Bände angekündigten autobiografischen Romans. Doch wer erwartet, in den zwei bislang erschienenen Büchern düstere Protokolle existenzieller Verzweiflung zu lesen, sieht sich getäuscht. Zumindest vordergründig.

In Kurzecks Romanen spricht die Verzweiflung eine leise Sprache, sucht das erschütterte Ich des Erzählers Halt in der Beschreibung des in Realität ruhenden Lebens rundum. Es konzentriert sich auf die feine Beobachtung der Außenwelt. So reihen beide Romane, Übers Eis aus dem Jahr 1997 und seine Fortsetzung, der unlängst erschienene Band Als Gast, unauffällige Fundstücke des Alltags zu einer zeitlupenhaft verlangsamten Momentaufnahme der Gegenwart - oder genauer, des Orwell-Jahres 1984 in wenigen Straßen in Frankfurt.

So begnügt sich Übers Eis mit der Erfassung des frostigen Februars nach dem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung in der Frankfurter Jordanstraße, der provisorischen Unterkunft in der Abstellkammer einer fremden Wohnung. Beschreibt das Warten an Bushaltestellen, Besuche im Supermarkt und immer wieder die täglichen Stunden mit Carina, der vierjährigen Tochter. Niederschriften achtsamster Aufmerksamkeit für den anderen, das Kind, seinen Schlaf. "Sie schläft, und dann seufzt sie im Schlaf und schläft tiefer weiter. Das hörst du an ihrem Atem. Als ob ihr Atem sie trägt. Je länger sie schläft, umso zarter die Haut im Schlaf. Und weich vom Schlaf ihr Gesicht, weich und rund."

Aus dem Verschwinden des Ichs in der Aufmerksamkeit entsteht, so scheint es, das dünne Eis, auf dem Weiterleben vorsichtig möglich wird.

Armut als Geruch

Sechs Jahre später nun setzt Als Gast an, wo Übers Eis abbrach: 1984, im März. Umzug aus der Abstellkammer zu Bekannten, Gast auf der Schlafcouch im Arbeitszimmer. Es ist Frühling, und der Umziehende stößt zum Auftakt mit der Fußspitze an - keinen Stein: "Ein Kirschkern vom vorigen Jahr und den ganzen Winter lang unterm Schnee. Ein Kirschkern im März!"

Von Anfang an waren es solche Funde der Wahrnehmung, die der Autor Peter Kurzeck, geboren 1943 in Böhmen, als Flüchtlingskind aufgewachsen in Staufenberg bei Gießen, notierte. Seit seinem ersten Roman Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst (1979) entsteht Welt aus einer endlosen Folge flüchtiger Beobachtungen. Die sich zu Porträts vergangener Gegenwart verdichten. Wenige Bücher etwa erfassen deutsche Nachkriegsgeschichte so präzise wie die beiden Romane Kein Frühling (1987) und Keiner stirbt (1990) über das Dorf der Kindheit.

Doch obwohl Peter Kurzeck zu den wesentlichen Gegenwartsautoren deutscher Sprache - bereits 1991 mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet - zählt und sein jüngster Roman zur Nummer eins der SWR-Bestenliste gekürt wurde, scheint seine Prosa zu leise, um sich in der lauten Gegenwart Gehör zu schaffen. (DER STANDARD, Printausgabe, 25./26.10.2003)