Wien/Berlin - Nach einer Woche von Gewalttaten gegen die US-Besatzer im Irak, bei denen es erstmals auch Hinweise auf schiitische Täter gibt - während sonst der militante Widerstand sunnitisch- baathistische, wenn nicht gar wahhabitische Domäne ist -, will Peter Heine im Gespräch mit dem Standard auf etwas Positives verweisen: Am Wochenende versammelten sich in Kerbala Hunderttausende Schiiten (manche sagen bis zu drei Millionen) zu einem religiösen Fest, alles lief ruhig ab - was schon die Abwesenheit von Schlagzeilen über das Großereignis zeigt.

"Da zeigt sich wieder einmal die organisatorische Begabung der Hawza (des schiitischen Gelehrtenrates)", sagt der Professor für Islamwissenschaften an der Berliner Humboldt Universität und verweist darauf, dass Großayatollah Sistani, eine der größten geistlichen Autoritäten im Irak, bei dieser Gelegenheit öffentlich und deutlich sagte, dass "schiitische Gelehrte sich nicht in die Tagespolitik einmischen sollten".

Steit um Rolle der Rechtsgelehrten

Heine, der vorige Woche auf Einladung der Orientgesellschaft Hammer-Purgstall und der Jeunesse in Wien war, ortet eine Auseinandersetzung zwischen dem irakischen Quietismus und der iranischen Staatstheorie des velayat-e faqih (Herrschaft des Rechtsgelehrten). Eine Reihe von Gelehrten, darunter Sistani, vertritt die Position, dass Religionsgelehrte grundsätzliche Entscheidungen treffen und "sich nicht um die Höhe des Preises von Straßenbahnfahrkarten kümmern sollen". Auf der anderen Seite stehen die Anhänger der klerikalen Herrschaft, und Heine meint, dass gerade die Schwierigkeiten, die das System im Iran hat, manche Khomeinisten dazu verleiten, dieses nun im Irak etablieren zu wollen.

Die Staatstheorie der irakischen Quietisten bestehe hingegen in der Ansicht, dass "jede Herrschaft außer der des Mahdi illegitim" sei, so Heine. Aber auch pragmatische Gründe sprechen gegen einen Gottesstaat à la Iran: Fehler werden in diesem System nicht Politikern, sondern den Religionsgelehrten angelastet, das schwäche die Autorität auch der Religion selbst. Viele Theologen im Iran wären sich dieser Problematik sehr bewusst, sagt Heine: "Uns laufen die Leute weg, weil wir politische Fehler machen."

Marginalisierung der Schiiten befürchtet

Heine meint, dass sich die religiösen Schiiten weiterhin eher aus der Tagespolitik heraushalten werden, was die Gefahr birgt, dass sie dann etwa mit dem Verfassungsentwurf, der gerade von einer von den USA handverlesenen Kommission ausgearbeitet wird, nicht einverstanden sind. Und das Verfassungsreferendum, könnte das dann scheitern? "Dann wird eben manipuliert", sagt Heine, anstatt "one man, one vote" stimmen dann eben Gruppen ab, in der Region seien solche Tricks ja wohl bekannt. Die Folge wäre wiederum die Marginalisierung der irakischen Schiiten - und Feuerköpfe wie Moktada al-Sadr (der vorige Woche eine Gegenregierung ausgerufen hat) würden neuen Zulauf gewinnen.

Heine sieht die Wiederkehr bestimmter Muster in der Geschichte der irakischen Schiiten - die Konflikte zwischen den Ayatollahs, mit dem Iran, die mögliche Marginalisierung der religiösen Schia im Staat -, die vor dem Krieg nicht genügend bedacht worden seinen: Auch er habe damit gerechnet, sagt Heine, dass die Schiiten als Ordnungsfaktor im Land besser funktionieren würden. Aber neben der Krise der Marja’iya (der Marja ist der höchstrangige schiitische Gelehrte, und wer das heute ist, ist unentschieden) habe man auch den Konflikt zwischen den im Land verbliebenen und den Exilschiiten unterschätzt. Wie auch bei den anderen oppositionellen Gruppen (außer den Kurden) hatten auch die Schiiten keine klare Übersicht da^rüber, was im Irak lief, und "wurden vielleicht Opfer ihrer eigenen Propaganda". Dass aus dem Nichts ein "junger Mann mit Schlägertrupps" - al-Sadr - auftaucht, damit habe niemand gerechnet. (DER STANDARD, Printausgabe, 14.10.2003)